„Dokumentarfilmer haben Codes eine Seele gegeben!“

„Dokumentarfilmer haben Codes eine Seele gegeben!“

Mit der neuen Augmented-Reality-App des WDR können Zeitzeugen wie Hologramme ins Klassenzimmer geholt werden – ein journalistisches und technologisches Großprojekt. Warum sich dieser Aufwand gelohnt hat, erklärt Maik Bialk, Leiter der WDR-Redaktion Doku&Digital.

Maik Bialk

Maik Bialk
© WDR/Herby Sachs

1. Ihr Projekt will Zeitzeugen und ihre Erfahrungen für nachfolgende Generationen bewahren. Was macht Zeitzeugen so besonders?

Zeitzeugen können auf eine besondere unmittelbare Weise vom Krieg erzählen. Sie tragen nicht die absolute Wahrheit, sondern erzählen subjektiv eine andere Geschichte auf eine andere Weise. Dadurch machen sie Abstraktes konkret und ermöglichen, sich anders damit auseinanderzusetzen: Nämlich von Mensch zu Mensch. Und das ist eine besondere Qualität, die Bilder und Filme in diesem Maße nicht haben.

2. Gerade im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gehen die Zeitzeugen aber nach und nach verloren.

Ja, wir befinden uns in einer Verlustsituation. Wir verlieren die Möglichkeit, uns diese Geschichten von Menschen persönlich erzählen zu lassen. Und das haben wir mit der App versucht, aufzufangen. Ausgangspunkt war das eigene Erleben. Alle Kolleginnen und Kollegen konnten Zeitzeugen in ihrer Schulzeit noch selbst zuhören. Das ist ein großes Privileg. Aber wir sind die letzten, die das können.

Mit der App wollten wir diesem Erlebnis möglichst nahe kommen. Das war die Kernintention des Projektes. Wir wollten eine Möglichkeit finden, das festzuhalten: Diese Begegnung zwischen Menschen.

3. Warum haben Sie sich für AR entschieden? Videoclips wären ja beispielsweise eine Alternative gewesen.

AR ist eine erlebende Technik. Was es kann, ist: Es kommt mir nah, also auch körperlich nah. Es ist näher als ein Videoclip. Mein Gehirn hat ein Erlebnis und etwas, das man selbst erlebt, wirkt viel stärker. Die Technik ist also ein Mittel zum Zweck: Sie schafft eine Begegnung. Ich kann mich körperlich reinbewegen und weggehen. Ich kann den Raum verlassen und wieder reinkommen und der Zeitzeuge sitzt immer noch da.

Ich hole mir eine Geschichte in meinen natürlichen vertrauten Raum. Ein Zeitzeuge kommt bei mir zu Besuch. Und das Setting dafür bestimme ich selbst.

4. Die App ist vor allem als Ergänzung für den Schulunterricht gedacht. Gab es schon erste Reaktionen von Schülern?

Wir haben die App konkret mit Schülern in einem Forschungsinstitut getestet. Die Testpersonen waren zwischen 14-18 Jahre alt. Bei dem Testlauf ging es um „Usability“, also wie bespielweise die Bedienbarkeit ist, aber vor allem auch um die Frage: Was bringt die App euch?

Das Ergebnis war überwältigend. Die Schülerinnen und Schüler hatten keine Erwartungen und waren überrascht. Vor allem waren sie aber berührt. Für uns war es das schönste Feedback, dass die Geschichten der Zeitzeuginnen ein Anlass gegeben haben, zu diskutieren. Denn genau das soll es geben: Mehr Austausch und Diskussion zwischen den Schülerinnen und Schülern.

5. Gibt es neben der App weitere Pläne für feste Partnerschaften mit Schulen?

Wir sind auf der Bildungsmesse „didacta“, um die App gezielt zu bewerben. Wir werden Schulen besuchen, sind mit dem Schulministerium im Gespräch.

Zu der App gibt es ein umfangreiches Unterrichtsmaterial. Dabei hat uns „Planet Schule“ sehr unterstützt. Unser Ziel ist, dass das ganze Paket an möglichst vielen Schulen zum Einsatz kommt

Kind vor Trümmern

© AKG/Toni Frissell

6. Nach welchen Kriterien haben Sie die Zeitzeugen ausgesucht?

Drei Dokumentarfilmer haben zusammen mit Producern aus dem Ausland recherchiert. Es war relativ schnell klar, dass wir nicht nur von hier aus Deutschland erzählen wollen. Aber man muss eben auch erstmal geeignete Zeitzeugen suchen und finden. Viele sind inzwischen sehr alt, viele sind nicht mehr mobil genug, um sie in unser Studio zu setzen.

Besonders interessant fand ich, dass es am Ende drei Frauen geworden sind. Das war nicht geplant. Wir haben auch Interviews mit Männern geführt. Aber die Frauen konnten besser erzählen. Sie erinnerten sich an mehr Details, was für die App ganz wichtig war. Bei den Frauen bekamen die Sachen einen Geruch. Natürlich tragen es die Männer genauso in sich, sie konnten es nur nicht so nach außen tragen.

7. Klingt nach einem hohen logistischen Aufwand. Was war die größere Herausforderung während der Produktion?

Die technischen Herausforderungen waren riesig – vor allem, etwas zu entwickeln, das es noch gar nicht gab. Weltweit nicht. Das hatte ich noch nie. Bis jetzt hatte man immer andere Beispiele, konnte sich an anderen orientieren. Diesmal haben wir völlig ins Offene gearbeitet. Das war ein sehr spannender und beglückender Prozess, aber auch sehr kompliziert. Man muss bedenken: Während wir gearbeitet haben, hat sich die Technik weiterentwickelt. Vor zwei Jahren, als wir begonnen haben, gab es eine erste Beta-Version der AR-Technik. Technik und App haben sich quasi parallel entwickelt. Die App ist technisch hochkomplex, ihre Inhalte hochsensibel.

8. Wie geht man vor, wenn man völliges Neuland betritt?

Am allerwichtigsten für das Projekt war, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Wir sind ein großes Team aus unterschiedlichsten Menschen mit unterschiedlichsten Disziplinen, Arbeitsbereichen, Denkweisen. Programmierer, Dokumentarfilmer, Journalisten – wir mussten ein gemeinsames Bild malen – das war unsere Kernherausforderung.

Am Ende hat es geklappt: Dokumentarfilmer haben den Codes eine Seele gegeben, finde ich. Und darüber sind wir extrem glücklich.

9. Was war der bewegendste Moment während der Entstehung der App?

Als Anne Priller-Rauschenberg, eine unserer drei Zeitzeuginnen, die App selber das erste Mal ausprobieren konnte, sich selber, aber auch die anderen Zeitzeuginnen sehen konnte. Nach der Geschichte von Vera aus London sagte sie: „Ja, das ist genau wie bei mir, das ist alles genau wie bei mir“. Das war sehr beeindruckend für das ganze Team.

Die Fragen stellte Luisa Thomé / Presse und Information Datum: 14.02.2019

Stand: 18.02.2019, 12.00 Uhr