"Welches Bild der Gesellschaft zeigen wir?"
"Welches Bild der Gesellschaft zeigen wir?"
Die Themen Integration und Rassismus sorgen in diesen Tagen für intensive Debatten – bedingt auch durch die WDR-Sendung "Die letzte Instanz". Wir sprachen mit Iva Krtalic, der Integrationsbeauftragten des WDR, über Vielfalt in den Medien, die Förderung der Integration im WDR und darüber, welche Schlüsse der WDR aus der Diskussion zieht.
WDR-Integrationsbeauftragte Iva Krtalic
© WDR/Annika Fußwinkel
Wie reagieren Sie im WDR auf die Diskussion nach der Sendung "Die letzte Instanz"?
Iva Krtalic: Im Sender sprechen wir sehr intensiv über diese Sendung und die berechtigte Kritik daran. Denn es ist völlig unstrittig, dass die Sendung misslungen war und uns in der Öffentlichkeit auch geschadet hat. Aber bei allem Ärger darüber sehe ich das auch als Chance. Wir stellen uns die Frage: Wo sind unsere blinden Flecken? Uns geht es vor allem darum, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Ich bin zusammen mit WDRforyou-Leiterin Isabel Schayani unmittelbar nach der Sendung in die wöchentliche Sitzung der beiden Programmdirektionen eingeladen worden. Dort haben wir intensiv mit den Programmverantwortlichen über Vielfalt im WDR, Interkulturalität und Rassismus diskutiert. Daraus ist die Idee eines Projektes entstanden, in dem Führungskräfte aus dem Programm unter der Leitung von Isabel Schayani und mir mit Expert*innen in divers besetzten Gesprächsrunden über diese Themen und die damit verbundenen offenen Fragen sprechen werden. Wir werden zusammen Ideen und Vorschläge erarbeiten, wie wir unser bisheriges Engagement intensivieren und Maßnahmen schneller umsetzen und weiterentwickeln können. Wichtig ist mir aber dabei: Wir fangen nicht bei null an. Der WDR hat interkulturelle Vielfalt schon gelebt, als es für viele andere noch gar kein Thema war.
Sie sagen, dass Integration schon seit vielen Jahren ein wichtiges Thema beim WDR ist. Was tut der WDR in diesem Bereich?
Iva Krtalic: Wir senden in einem Bundesland, in dem fast jedes zweite Grundschulkind aus einer Einwandererfamilie stammt – das ist die gesellschaftliche Normalität. Die Bedeutung des Themas haben wir schon vor zwanzig Jahren erkannt und seitdem spiegelt sich dies in unserem Programm. Einige Beispiele: COSMO, das junge europäische Kulturradio des WDR, das Format RebellComedy oder die Angebote bei WDRforyou für Neu-Zugewanderte.
Laut einer Studie der Neuen deutschen Medienmacher*innen zur kulturellen Vielfalt in den Medien sind wir Vorreiter auf dem Gebiet. Es kränkt mich, dass viele Menschen, die die Sendung gesehen haben, jetzt ein ganz anderes Bild von uns haben.
Wie beurteilen Sie die Diskussion in der kritisierten Sendung?
Iva Krtalic: Ich war total aufgewühlt, als ich die Sendung gesehen habe. Auch die Diskussion darüber betrifft mich sehr persönlich. Da haben Menschen über etwas geredet, wovon sie keine Ahnung haben. Natürlich werden diese Fragen in der Gesellschaft diskutiert, und wir sollten sie nicht ausblenden. Die Frage ist allerdings, wie wir darüber diskutieren. Als Journalist*innen sollten wir mit offenen Augen durch die Welt gehen und beobachten, was sich um uns herum verändert. Dazu gehört auch, dass wir hinterfragen, ob unser Bild der Mehrheitsgesellschaft noch der Realität entspricht.
Wie sieht es insgesamt in den Redaktionen aus? Spiegeln sie die Gesellschaft wider?
Iva Krtalic: Die Zusammensetzung der Redaktionen ist eine zentrale Frage: Wie können wir Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven in die Redaktionen bringen? Wir führen eine auf Diversität ausgerichtete Auswahl der journalistischen Volontär*innen durch, so dass in den letzten Jahren der Anteil der Volontär*innen mit einem Migrationshintergrund über 30 Prozent lag. Dieses Jahr beträgt er 38 Prozent. Insgesamt liegt der Anteil von Menschen mit eigener oder familiärer Einwanderungsgeschichte unter den Neuzugängen im WDR im Schnitt über 20 Prozent. Wir sind übrigens der einzige Sender, der diese Daten bei Neuverträgen in einer anonymen Umfrage erhebt.
Dazu kommt WDR grenzenlos, unsere journalistische Talentwerkstatt, in der wir seit 15 Jahren Nachwuchs mit internationalen Biografien fördern. Die Journalist*innen und Moderator*innen Donya Farahani, Srdjan Govedarica, Dilek Üşük, Elif Senel, Vassili Golod, Katja Garmasch oder Mona Ameziane sind nur einige der vielen, die wir durch die Talentwerkstatt für den WDR gewonnen haben.
Perspektivisch wäre es wichtig, dass Journalist*innen mit Migrationshintergrund noch stärker in programmprägende Rollen, Redakteursstellen oder Führungspositionen kommen. Diese Frage der Durchlässigkeit der Strukturen stellt sich zunehmend. Wir müssen die Maßnahmen und Projekte also immer wieder einem Realitätscheck unterziehen und gegebenenfalls nachjustieren, damit sie nachhaltig wirken.
Iva Krtalic: Wir sind erst vielfältig, wenn wir nicht nur Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Erfahrungen in die Redaktionen bringen, sondern wenn sich ihre Perspektiven und Geschichten im Programm wiederfinden. Viele Redaktionen haben dies verstanden. Es gibt aber auch andere, die wir weiter sensibilisieren wollen. Wir wollten wissen, wo noch Verbesserungsbedarf ist und haben deshalb ein eigenes Forschungsprojekt realisiert. Wir haben junge Menschen aus NRW mit Zuwanderungsgeschichte dazu befragt, was sie von den Medien erwarten. Die Studie hat gezeigt, dass sie sich kaum von den Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Zum Beispiel vertrauen sie den öffentlich-rechtlichen Medien, wenn es um Aktuelles und Nachrichten geht. Aber sie wollen die eigene Lebenswelt als Teil des normalen Bildes der Gesellschaft in den Medien sehen – und nicht wie vor zig Jahren als Teil eines „Migrationsproblems“.
Ich denke, dass jede wie auch immer definierte Vielfaltsstrategie mit der Frage steht und fällt, ob Vielfalt als Nischenthema oder als zentral für die journalistische Reflexion im Sender verstanden wird. Welches Bild der Gesellschaft zeigen wir? Und ist dieses Bild realistisch? Die Fragen rund um das journalistische Arbeiten in der pluralen Gesellschaft müssen wir uns immer wieder stellen.
Oft wird kritisiert, dass Sendungen mit Migrationsthemen nicht im Hauptprogramm an prominenterer Stelle platziert werden. Was ist Ihre Meinung?
Iva Krtalic: Gesellschaftliche Vielfalt gehört ins Hauptprogramm, das ist keine Frage. Hier geht es um Sichtbarkeit, die ich für enorm wichtig halte, zumal uns auch die Menschen sagen, dass sie sie wünschen. Es hat eine wichtige Wirkung, die über das Publizistische hinaus geht, wenn Dilek Üşük unsere Hauptinformationssendung Aktuelle Stunde moderiert, Siham El-Maimouni uns durch den NRW-Wahlmarathon führt oder 1LIVE-Moderatorin Donya Farahani regelmäßig ein breites junges Publikum erreicht. Das betrifft aber auch die Besetzung von Gespächsrunden. Insgesamt geht es für mich darum, dass die Protagonist*innen dieser Gesellschaft in den Programmen ganz selbstverständlich und ohne Erklärungszwang sichtbar und hörbar sind.
Das Interview führte Christian Schyma.
Stand: 10.02.2021, 10.00 Uhr