Thomas Broich
UEFA EURO 2024
Thomas Broich
Er schoss das 40.000ste Tor in der Geschichte der Bundesliga (als Spieler von Borussia Mönchengladbach), spielte auch für den 1. FC Köln und den 1. FC Nürnberg erstklassig – und verabschiedete sich dann in Richtung Australien. Rund 14.500 Kilometer von seiner Heimat entfernt fand der einst als Deutschlands größtes Fußballtalent gehandelte Thomas Broich sein sportliches Glück. Mit Brisbane Roar wurde er dreimal australischer Meister, dreimal in das PFA Team of the Year gewählt und 2014 gar zum Fußballer des Jahrzehnts in der A-League gekürt. 2017 beendete der gebürtige Münchner und siebenfache U21-Nationalspieler seine aktive Karriere. 2019 feierte er bei der U21-Europameisterschaft seine Premiere als Experte für die ARD. In dieser Rolle glänzte er nicht zuletzt bei der UEFA EURO 2020 und bei der Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Gemeinsam mit dem ehemaligen Profi Jérôme Polenz analysiert er in der SPORTSCHAU zudem taktische Aspekte von Bundesligamannschaften. Im Frühjahr 2024 wurde bekannt, dass Thomas Broich – seit 2022 „Leiter Methodik“ im Jugendbereich von Hertha BSC – zum Sommer sportlicher Leiter des Nachwuchsleistungszentrums von Borussia Dortmund wird.
© WDR/Annika Fußwinkel/Adobe
Die EURO im eigenen Land: Auch für Sie persönlich etwas Besonderes?
Natürlich. Wenn man sich als kleiner Bub die Weltmeisterschaft 90 in Italien angeschaut hat, und dann finden große Turniere im eigenen Land statt, dann wird das innere Kind wieder zum Leben erweckt. Ich bin da ein Stück weit auch ganz normaler Fußballfan. Dazu kommt, dass das wahrscheinlich das letzte große Turnier ist, das wir für eine lange Zeit in Deutschland erleben werden. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land ist ja auch erst 18 Jahre her. Es wird also sehr, sehr lange dauern, bis wir wieder an der Reihe sind. Umso besonderer ist diese Europameisterschaft.
Auf welche Mannschaften und welche Spieler freuen Sie sich besonders?
Ich habe da eine breite Palette an Mannschaften, weil sie so unterschiedlich sind. Es gibt die Herausforderer, es gibt die Routiniers, es gibt die Pragmatiker, es gibt die Innovativen. Da könnte man jetzt sämtliche Teams durchgehen und würde dabei sehr interessante Besonderheiten finden. Ich denke da zum Beispiel an Frankreich. Die Mannschaft ist herausragend besetzt. Auf die freut man sich natürlich besonders, weil diese Einzelkönner ihre Abgezocktheit seit Jahren regelmäßig auf hohem Niveau unter Beweis stellen. Und dann so ein Herausforderer wie Österreich. Die haben einen ganz anderen Spielstil als den, der gerade im Vereinsfußball erfolgreich ist. Dort herrscht ja dieses Locken und Zocken vor, eng durchs Zentrum, ganz viel Ballbesitz. Die Österreicher machen es hingegen in alter Rangnick- Manier, mit Intensität, mit Vertikalität. Vor allem gegen den Ball sind das richtige Monster. Bei uns scheint es nach den Länderspielen gegen Frankreich und die Niederlande so zu sein, als würden wir uns ein bisschen dem modernen Trend anschließen. Das sah von den Ballpassagen her super-, superflüssig aus. Die Mannschaft hat ganz, ganz eng durchs Zentrum eröffnet und dadurch unsere Zauberer und Wirbler von Innen nach Außen gut in Szene gesetzt. Also, da kommt bei ganz vielen Mannschaften Freude auf, und das aus unterschiedlichen Gründen. Was die Spieler angeht, geht mir bei den Dribblern das Herz auf. Ich denke da zum Beispiel an Foden, Bernardo Silva, Wirtz, Musiala – ganz gleich, ob in den Halbräumen oder am Flügel.
Warum stimmt die Regel, dass am Ende immer die Deutschen gewinnen, nicht mehr?
Ich glaube, und das ist ja eine Kontroverse seit längerem, dass es tatsächlich nicht mehr reicht, die deutschen Grundtugenden hochzuhalten. Ganz viele haben ja eine Rückbesinnung auf diese Tugenden gefordert, Beißen, Verteidigen, Siegeswillen, was auch immer. Diese Tugenden haben uns in der Vergangenheit fraglos die ganzen Erfolge beschert, und sie waren eine Zeitlang vielleicht auch ein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind es aber nicht mehr. Ich teile da durchaus die Meinung von Jogi Löw, der immer wieder betont hat: All das haben die anderen mittlerweile auch, das ist nichts mehr, was noch verhandelt wird. Eine Mannschaft, die das nicht mitbringt, wird am Ende kein Großturnier gewinnen. Und dann sind wir schnell bei den anderen Geschichten, die den Unterschied machen, dann reden wir über taktische Feinheiten, über technisches Niveau. Nur wenn alles zusammenkommt, hat unsere Truppe eine Chance. Wir müssen uns immer am oberen Rand bewegen, was die Komplexität des Spiels angeht, und dadurch die Individualisten in Szene setzen, die wir fraglos haben. Gleichzeitig ist es superwichtig, und das gelingt derzeit ja auch, die richtige Mischung aus Wasserträgern und Zauberern zu finden und klar festzulegen, wer welche Rolle zu spielen hat. Wenn wir das konsequent umsetzen und gut ausbalanciert sind, haben wir mit dem Publikum im Rücken eine Riesenchance.
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Also stimmt die Regel bei der EURO 2024 doch wieder?
Naja, sie kann stimmen. Meine Erfahrung der letzten großen Turniere war, dass die Mannschaften Erfolg hatten und Titel geholt haben, die im Vorfeld richtig Fahrt aufgenommen haben, und das über einem langen Zeitraum. Wenn man sich anschaut, wie lange die Italiener ungeschlagen waren, bevor sie Europameister geworden sind, und die Argentinier, bevor sie Weltmeister wurden: Das waren jeweils Serien von mehr als 30 ungeschlagenen Spielen am Stück. Und auf so etwas können wir gerade nicht zurückgreifen. Wir haben jetzt einen guten letzten Eindruck, aber es ist halt noch ein fragiles Gebilde. Auf der anderen Seite haben wir nicht nur einmal, sondern zweimal gezeigt, dass wir nicht nur Potenzial haben, sondern auch fähig sind, dieses Potenzial auszuschöpfen. Wie wir die Franzosen dominiert haben, das Geschehen mit Ball diktiert haben, das hat mir richtig, richtig Spaß und auch Mut gemacht. Wenn wir das hinkriegen, wenn wir eng beieinander sind, immer wieder diese Dreiecke schaffen, dann sind wir auch griffig im Gegenpressing und werden immer wieder Lücken reißen.
Wenn Deutschland wider Erwarten nicht Europameister wird: Welche Mannschaft schafft es, und warum wird sie es schaffen?
Finde ich superschwierig zu sagen, weil die Mannschaften fast alle sehr spannende Pakete anbieten. Portugal zum Beispiel hat unfassbar viele großartige Individualisten, dermaßen viel Erfahrung, eine dermaßen große Homogenität in der Truppe… Wenn so eine Mannschaft einen Lauf kriegt, kann sie es packen. Und dann gibt es noch Mannschaften, die einfach mal dran sind. Dieses Gefühl habe ich seit Jahren bei den Engländern. Die werden gefühlt immer besser und besser und besser, die haben national den krassesten Wettkampf, die haben auf der Insel die besten Trainer, und für mich ist das nur eine Frage der Zeit, dass das Früchte trägt und die Nationalmannschaft Titel holt.
Worauf werden Sie besonders achten, wenn Sie sich bei der EURO in Ihrer Funktion als Experte ein Spiel anschauen?
Ich bin jemand, der extrem auf die B-Note achtet. Ich mag’s nicht, wenn Spiele durch Pragmatismus gewonnen werden. Ich liebe die Künstler, die Mannschaften, die ins Risiko gehen, die eine tolle Spielidee auf den Platz bringen. Im Moment machen mir die erste und zweite Liga mit Teams wie Leverkusen, Stuttgart und St. Pauli unglaublich viel Spaß. Diese Art von Fußball ist für mich fußballerisches Homeland, und danach werde ich mich auch bei der EURO wieder auf die Suche begeben.
Was muss auf und neben den Plätzen geschehen, damit Sie am Ende sagen: Die EURO 2024 hat mir Spaß gemacht?
Wenn am Ende eine mutige Spielidee belohnt wird und eine Mannschaft den Titel holt, bei der die B-Note stimmt, dann bin ich überglücklich. Und jenseits des Platzes? Also, es hört sich jetzt blöd an, wenn ich sage, wir wollen das Sommermärchen wiederholen. Wir leben in einer anderen Zeit, es ist viel passiert in der Welt. Aber das Gesicht, das Deutschland damals gezeigt hat, fand ich fantastisch. Dieses Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – wenn wir das wieder hinbekommen, so eine Gemeinschaft, Sommerwetter, Grillen, Live- Übertragungen, Fußballfans, wo immer man auch hinguckt, unterschiedlichste Trikots; wenn das ganze Land vibriert und Bock hat auf Fußball, dann werden wir nach einem Monat alle selig nach Hause gehen.
Stand: 19.04.2024, 12.00 Uhr