Interview mit Eckart von Hirschhausen

„Hirschhausen und die Abnehmspritze“

Interview mit Eckart von Hirschhausen

Werden mit der „Abnehmspritze“ all unsere Probleme rund ums Thema Fettleibigkeit gelöst?

Ganz sicher nicht. Die Lösung wäre, gar nicht erst übergewichtig zu werden. Dafür müssten wir endlich Prävention und ein gesundes Leben im Alltag, in der Kita, in den Schulen, in den Kantinen ernst nehmen. Doch dummerweise fehlt dafür der politische Wille und das Geschäftsmodell – an Gesunden verdient keiner was. Überspitzt gesagt lassen wir die Menschen überall hochkalorischen Schrott essen, und wenn sie dann unter ihrem Übergewicht leiden, verkaufen wir ihnen die Spritze, die am besten jeder noch selbst zahlen soll. Ein Milliardengeschäft. Absurderweise nehmen viele die Spritze, die sie nicht bräuchten, und die sie brauchen, bekommen sie teilweise nicht. Es sind gefährliche Fälschungen im Umlauf, von illegalen Bestellungen im Internet ist dringend abzuraten. Wegovy und Ozempic sind keine Medikamente für gesunde Menschen, die ein paar Kilos verlieren wollen. Aber sie helfen wirksam Menschen mit Adipositas oder Typ-2-Diabetes und den vielen Begleiterkrankungen.

Eckart von Hirschhausen und Prof. Andreas Birkenfeld (l).
© WDR/Marcel Katz

Kann die „Abnehmspritze“ wirklich Krankheiten oder sogar Todesfälle verhindern?

Ja, aktuelle Studien deuten darauf hin. Die Langzeitergebnisse sind noch abzuwarten, aber die Wirkung geht über reine Gewichtsreduktion hinaus. Die Spritze kann vor allem denen helfen, die schon Diabetes oder andere Folgeerkrankungen haben. Seit 20 Jahren ist klar: wer einmal übergewichtig ist, schafft es aus eigener Anstrengung nur in seltenen Ausnahmefällen, dauerhaft abzunehmen. Das hat nichts mit „Charakterschwäche“ zu tun, dahinter stecken viele Mechanismen, die wir nicht bewusst steuern können, und die zum Teil Merkmale einer Sucht tragen. Der erste Schritt ist also, diesen absurden moralischen Druck auf die Betroffenen sein zu lassen. Denn durch gute Ratschläge, schlechtes Gewissen und gesellschaftliche Verachtung sind die Menschen die letzten Jahrzehnte nicht leichter geworden, sondern schwerer. Daher ist die Art und Weise, wie die neuen Medikamente wirken, schon eine berechtigte Hoffnung für viele.

Wo setzt der Wirkstoff an?

Die Medizin hat lange die Ursache für Fettsucht im Stoffwechsel gesucht, die Diäten suchten den Hebel im Kalorienzählen, dabei liegt der entscheidende Schalter im Gehirn. Genau gesagt im Belohnungszentrum. Dort setzen die neuen Medikamente an. Sie imitieren einen natürlichen Signalweg, sie sagen also dem Hirn „Du bist satt!“. Dieses Signal übernehmen normalerweise das Darmhormon GLP-1 und das Hormon Insulin, aber wenn wir zu lange zu viel essen, stumpft das Hirn ab und das Insulin wirkt nicht mehr.

Die Medizin hat lange die Ursache für Fettsucht im Stoffwechsel gesucht, die Diäten im Kalorienzählen, dabei ist der entscheidende Schalter im Gehirn.. Dort setzen die neuen Medikamente an. Sie imitieren einen natürlichen Signalweg, sie sagen also dem Hirn „Du bist satt!“. Dieses Signal übernimmt normalerweise das Hormon Insulin, aber wenn wir zu lange zu viel essen, stumpft das Hirn ab und das Insulin wirkt nicht mehr. Die Spritze führt bei vielen zu einer Gewichtsreduktion von 15 Prozent – und ist damit wirksamer als alles, was wir an Medikamenten bislang hatten. Neue Kombinationen von Wirkstoffen, die gerade auf den Markt kommen, werden sogar noch besser sein. Der Haken: das alles wirkt nur, solange man die Medikamente nimmt. Sobald man sie absetzt, schlägt der Jo-Jo-Effekt zu. Und es gibt wie immer, wenn etwas wirkt, auch Nebenwirkungen, in diesem Fall wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Verstopfungen oder Durchfall. Selten kann es zu Bauchspeicheldrüsenentzündungen oder Gallensteinen kommen.

Der Kampf gegen die Kilos beginnt im Gehirn. Um das zu zeigen, startet Eckart von Hirschhausen ein Experiment: Wie schnell rutscht sein Hirn in den Teufelskreis der Adipositas-Erkrankung? Reichen fünf Tage Snacks und Junk-Food?
© WDR/Marcel Katz

Sie haben für die Dokumentation fünf Tage lang mehr als 1500 Kilokalorien zusätzlich zu sich genommen. Welche Erkenntnis haben Sie aus diesem Experiment mitgenommen?

Dieses Experiment war für mich erstaunlich und erschreckend zugleich. Ich habe 1500 Kilokalorien zusätzlich gegessen, lauter Schokoriegel, Chips und anderen Kram. Das, was wie ein Traum klingt, wurde schnell zum Albtraum. Mein Blutzucker spielte verrückt. Ich konnte das Zeug, von dem ich in meinem Leben schon eine Menge verzehrt habe, schon am zweiten Tag nicht mehr sehen. Was ich aber im MRT sehen konnte: meine Leber verfettete direkt um 45 Prozent. Und das Belohnungszentrum im Hirn sprach auf Fotos von Hamburgern, Kuchen und Schokosnacks noch stärker an als vorher. Das fühlte sich verrückt an: Subjektiv wollte ich nichts mehr davon wissen, aber mein Hirn wollte das genaue Gegenteil: mehr und mehr! Da habe ich am eigenen Leib erfahren, woher dieser Widerspruch in der Wahrnehmung kommt: je dicker die Menschen werden, desto weniger funktioniert ihre Appetitregulation, und umso hungriger sind sie nach ungesundem Zeug. Unser Hirn ist dummerweise verrückt nach dieser künstlichen Mischung von Fett, Zucker und Salz – weil es die in der Natur nie gegeben hat. Das hat nichts mit „Schuld“ zu tun, für mich hat das Kennzeichen von Sucht – eben „Fettsucht“. Und mein zweites Aha-Erlebnis war, dass sehr viele der Snacks genau diese fiese Mischung enthalten, nur ist mal die Schokolade um den Keks rum, mal ist der Keks in der Schokolade. Aber die Energiedichte ist immer die gleiche. Da kann kein Brokkoli gegen anstinken. Nur Pommes.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Viel besser! Sogar besser als vor den Dreharbeiten. Einmal mein eigenes viszerales Fett und die Veränderungen in der Leber und im Kopf schonungslos gezeigt zu bekommen, hat mir doch sehr zu denken gegeben. Leider ist es sehr viel leichter, den Körper aus der Bahn zu bringen, als wieder in Balance. Dafür reicht es nicht, eine Woche lang den Schrott wegzulassen – sondern dauerhaft, über Monate. Ich habe durch das Experiment die Lust auf Snacks wirklich verloren. Und mit Intervallfasten, mehr Schwimmen, Radfahren und Muskelaufbau sind 7 Kilo runter. Vor allem: mein Belohnungszentrum funktioniert wieder normal und das Leberfett ist verschwunden. Ich fühle mich viel gesünder und wohler in meinem Körper. Jetzt kommt der schwierige Teil – dranbleiben! Und genießen! Essen soll ja kein Kampf sein – sondern eine Freude!

Sie fragen in der Doku „Wie lange wollen wir es uns als Gesellschaft noch leisten, dass es überall und ständig Fettiges, Süßes und Salziges zu kaufen gibt, aber gesundes Essen als Luxus gilt?“ Was ist Ihre Antwort?

Gerade in Zeiten von Inflation und Krisen, sparen viele zuerst am Essen. Gesund zu essen ist aber Menschenrecht und kein Luxus. Dänemark macht es vor: in allen Kitas, Schulen und Kantinen gibt es Standards, und siehe da: die Gewohnheit, die Nachfrage und der Anbau von nachhaltigen Lebensmitteln verändern sich. In Deutschland streiten wir seit Jahren über Kennzeichnungen, tun so, als ob „Selbstverpflichtung“ funktioniert und bieten in Schulen und Krankenhäusern jeden Tag Essen an, das alles andere als gesund oder nachhaltig ist. Ein Drittel aller Lebensmittel wird weggeworfen, und der übermäßige Fleischkonsum zerstört die letzten zusammenhängenden Regenwälder für Futtermittel und Weideflächen. All das „kaufen“ wir täglich unbewusst mit ein. Das Ernährungssystem ist echt krank und zerstört völlig unnötig Mensch und Natur. Das muss man sich immer wieder klar machen, weltweit sterben viel mehr Menschen an Überernährung als an Unterernährung! Immerhin fangen viele Kantinen an, leckeres, pflanzenbasiertes Essen anzubieten. Wir können 150.000 frühzeitige Todesfälle in Deutschland verhindern durch die „planetary health diet“, also Essen, das für den Einzelnen und die Erde gesünder ist. So einen Hebel hat kein Medikament, keine Operation. Wann machen wir das endlich?

Der Dickenhass und die Diskriminierung hochgewichtiger Menschen, selbst im Gesundheitswesen, ist nicht länger hinzunehmen – Nicole Jäger und Eckart von Hirschhausen machen Mut: Lasst euch nicht davon aufhalten!
© WDR/Bilderfest/Tom Schünemann

Welche Rolle spielen Werbung und Lebensmittelindustrie beim Thema Ernährung, was muss sich hier aus Ihrer Sicht ändern?

Die politische Einflussnahme der Industrie ist sehr mächtig, und bezeichnenderweise hat uns der Cheflobbyist ein Interview für die Dokumentation abgesagt. Die Schäden durch falsche Ernährung kosten uns Milliarden. Von dem vermeidbaren menschlichen Leid ganz abgesehen. Positiv formuliert könnten wir mehr Gesundheit und Lebensfreude haben und dabei sehr viel Geld im Reparaturbetrieb sparen, wenn wir den Zugang zu Obst und Gemüse erleichtern und von der Mehrwertsteuer befreien, und dafür Zucker, Billigfleisch, hochverarbeiteten und hochkalorischen Schrott teurer machen.

Und: Werbung für Ungesundes für Kinder sollte aus dem Fernsehen und dem Internet verschwinden. Das ist Konsens in der Medizin. Aber leider nicht in der Politik. Dabei würde uns allein eine Limo-Zuckersteuer laut aktueller Studie bis zu 16 Milliarden sparen.

Welche Geschichte persönlicher Betroffenheit aus den Dreharbeiten klingt auch jetzt noch in Ihnen nach?

Der Grundgedanke all meiner ARD-Dokumentationen ist ja, dorthin zu gehen, wo Kameras selten hinkommen. Dort hinzuschauen, wo wir ungerne hinschauen, wo es auch weh tut, wo gesellschaftliche Tabus und blinde Flecken sind. Das, was ich in der Therapiegruppe von Essgestörten erleben durfte, hat mich besonders berührt. Dort sprachen wir sehr offen über den gesellschaftlichen Druck auf Übergewichtige. Je mehr Anfeindungen, desto mehr wünschen sich die Betroffenen einen „Panzer“, und Essen wird zum kurzfristigen Frustabbau. Langfristig steigt aber der Frust und sogar der Selbsthass. Auch die Komikerin Nicole Jäger aus Hamburg hat mich sehr beeindruckt durch ihre ehrliche und gleichzeitig humorvolle Art, mit ihrer Essstörung und ihren 160 Kilo umzugehen. Wir schauen uns im Film zusammen Ausschnitte aus ihrem Bühnenprogramm an und gehen ins Schwimmbad. Mehr möchte ich gar nicht verraten – es lohnt sich, die Doku zu schauen und sich selbst berühren zu lassen.

Was können wir tun, um Vorurteile abzubauen?

Nicht ständig Menschen nach ihrem Gewicht beurteilen! Weder in die eine noch in die andere Richtung. Klar ist das erstmal als Kompliment gemeint, wenn jemand sagt „Wow, hast du abgenommen!“ Aber eigentlich ist das Quatsch. Denn es zementiert, dass man darüber immer froh sein muss und dass für uns alle die Waage oder der Hüftspeck der Maßstab für Erfolg oder Glück ist. In der Therapiegruppe war ich sehr gerührt als ich hörte, dass eine Frau mit Essstörungen nach ihrer Magenoperation zwar Gewicht verlor, aber darüber erstmal gar nicht besonders glücklich war. Weil sie ihre „Schutzschicht“ verlor, sich „dünnhäutiger“ und verletzlicher fühlte und sich beim Spazieren im Schaufensterspiegel fremd vorkam.

Mit Komikerin Nicole Jäger gehen Sie teils ernst, teils aber auch humorvoll mit dem Thema Fettleibigkeit um. Warum kann Humor hier helfen?

Dick sein sieht man jemandem sofort an. Doof sein nicht. Humor hilft, weil er zeigt, wenn sich jemand selbst auf den Arm nehmen kann. Und in den Arm. Denn Humor ist nicht nur ein mentales Judo, sondern auch ein großes JA zu all den Widersprüchen, die wir alle mit uns tragen. Und Humor kann Aggressionen unschädlich machen. Denn letzten Endes ist der Hass, den viele Dicke abbekommen, begründet in der ständigen frustrierenden Kontrolle, die so viele meinen, über ihren Körper ausüben zu müssen. Und diese Wut bekommen die ab, die sich vermeintlich „gehen lassen“. Es ist komplex. Das Verhältnis zum eigenen Körper hat so viele Facetten und Fallstricke, dass ich mich seit dieser Erfahrung bemühe, keine Kommentare mehr zu irgendeinem körperlichen Merkmal zu machen – sondern über Ausstrahlung, Herzlichkeit und Humor. Im Schwimmbad habe ich auch ein neues liebevolles Wort für meine Fettschicht unter der Haut gelernt, die mich im kalten Wasser schützt: „Bio-Pren“.

Für wen haben Sie diese Dokumentation gemacht?

Für alle, denen sie hilft, sich und die Welt besser zu verstehen. Mir hat sie jedenfalls schon geholfen.

Interview: WDR Kommunikation

Stand: 08.04.2024, 15.00 Uhr