Fragen an Regisseurin und Drehbuchautorin Julia C. Kaiser

Fragen an Regisseurin und Drehbuchautorin Julia C. Kaiser

Sabine de Mardt/Gaumont Arbeitsfoto Julia C. Kaiser (Regie)

Julia C. Kaiser
© WDR/Gaumont/Thomas Kost

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert. Wie sind Sie auf das Buch aufmerksam geworden und wie ist die Idee zur Verfilmung entstanden?
„Die Produzentin Sabine de Mardt hatte das Buch mit der Gaumont Deutschland optioniert und fragte mich damals, ob ich mir vorstellen könnte, dazu das Drehbuch zu schreiben und die Regie zu übernehmen. Ich sagte sofort zu, da ich zu diesem Zeitpunkt gerade Mithu Sanyals Buch ‚Vergewaltigung‘ gelesen hatte und ich dringend etwas zu dem Thema ‚sexualisierte Gewalt‘ aus queer-feministischer Perspektive machen wollte. Ich bin Sabine de Mardt sehr dankbar, dass sie mich damals gefragt hat.“

Worin liegt der größte Unterschied zur Romanvorlage?
„Ich habe mich beim Schreiben des Drehbuchs bemüht, möglichst nah am Roman zu bleiben. Ich stand zu jedem Zeitpunkt der Herstellung des Films im engen Austausch mit der Autorin Bettina Wilpert, für deren Beratung ich sehr dankbar bin. Der wahrscheinlich größte Unterschied zur Romanvorlage ist die Figur der Podcasterin Kelly. Diese Figur ist im Roman durch die Erzählform spürbar, bleibt aber sonst ganz im Hintergrund. Das vermittelt im Roman die Aussage, dass es keine objektive Erzählperspektive geben kann – weder im Fiktionalen noch in der Realität. Das wird wichtig, wenn wir uns die Frage stellen: ‚Was ist (wirklich) passiert?‘; es wird deutlich: so etwas wie ‚objektive‘ Gewalt gibt es nicht, sondern wir als Gesellschaft legen fest, was wir als Gewalt wahrnehmen und welche Körper schützenswert sind und welche weniger.“

Sie haben diesen Film mit einem sehr jungen Cast realisiert. Wie haben Sie die Schauspieler:innen auf das Thema vorbereitet?
„Die Castingdirektorin Karimah El-Giamal und ich haben zu allen Anfragen eine Triggerwarnung mitgeschickt, um den Darsteller:innen die Möglichkeit zu geben zu entscheiden, ob sie mit dem Thema zu tun haben wollen oder nicht. Das haben wir auch bei allen Teamanfragen gemacht. Die Vorbereitung bestand aus vielen Proben; während des Drehs haben wir mit der Intimacy Koordinatorin Julia Effertz zusammengearbeitet und wir hatten außerdem eine therapeutische Supervision.“

Am Ende des Films steht kein Richterspruch, der die 90 Minuten für die Zuschauer:innen einordnet. Weshalb haben Sie darauf verzichtet?
„Doch, es gibt einen Richterspruch: Die Anwältin liest vor, dass das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wird. Ich könnte mich also fragen, ob ich es gut finde, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der mein Körper von einer anderen Person so lange ungestraft sexuell berührt werden darf, bis ich ‚nein‘ sage, oder, lieber in einer Gesellschaft leben möchte, in der mein Körper erst berührt darf, wenn ich ausdrücklich und lustvoll und freudig ‚Ja!‘ gesagt habe.“

Sechs Jahre #MeToo: Hat sich in Deutschland grundlegend etwas geändert? Wo stehen wir im Vergleich zu 2018, als das Buch veröffentlicht wurde?
„Ich kann nur meinen persönlichen Eindruck schildern: #MeToo hat vor allem Gewalt sichtbar gemacht, die vorher stillschweigend geduldet oder aktiv verschweigen wurde. Jetzt sollten strukturelle Änderungen folgen, die aber aus meiner Sicht nicht wirklich passieren. Das zeigt sich für mich schon allein daran, dass wir den Film mehrere Jahre nach der Veröffentlichung des Romans immer noch genau so machen können, ohne am Plot etwas verändern zu müssen, weil es in der Zwischenzeit zum Beispiel eine Gesetzesänderung gegeben hat.“

Lotta Kilian (Kamera), Anna (Emma Drogunova) und Julia C. Kaiser (Regie)
© WDR/Thomas Kost

Was verbinden Sie mit dem titelgebenden Satz „Vergewaltigung ist nichts, was uns passiert“?
„Den titelgebenden Satz ‚Vergewaltigung ist nichts, was uns passiert, Vergewaltigung passiert anderen Leuten.‘, sagt Anna im Interview zu Kelly, als sie beschreibt, wie sie sich in den ersten Wochen nach der Vergewaltigung gefühlt hat. Sie beschreibt, dass sie nicht fähig war, dem Vorfall einen Namen zu geben, dass es ein ‚weißes Loch in ihrem Bewusstsein gegeben hat, dass alle Wörter, die die Sache benennen wollten, aufgesaugt hat.‘. Für mich ist das einer der stärksten Momente im Roman und ich wollte ihn im Film mindestens genauso zentral behandeln. Für mich beschreibt Anna einen Schutzmechanismus. Vergewaltigung wird in unserer Gesellschaft als fundamentale Beschädigung von weiblichem Status, Identität und Selbstwahrnehmung eingestuft. Gegen diese Beschädigung kann sich Anna nur wehren, in dem sie die Attacke nicht als Vergewaltigung wahrnimmt. Gleichzeitig ist es ein gesellschaftliches Tabu, über das es ein paar Geschichten gibt, wie eine Vergewaltigung abläuft; diese Geschichten passen jedoch nicht zu dem, was Anna erlebt. Deshalb kann sie erst nicht erkennen, dass sie vergewaltigt wurde. Ihr Körper reagiert wie nach einer Verletzung, aber ihr fehlt schlicht das Wissen darüber, weil sie es nicht beigebracht bekommen hat.

Im Titel ‚Nichts, was uns passiert‘ steckt für mich auch Jonas‘ Position. Jonas hat gelernt, dass seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen und es gehört zu seiner männlichen Identität, seinen Willen durchzusetzen und Grenzen zu missachten; es bedeutet Stärke. Dieses Bild von sich selbst ist sehr starr und beruht darauf, sich selbst nicht infrage zu stellen, denn das würde Schwäche bedeuten. Er hat kein realistisches, bewegliches Selbstbild von sich selbst entwickeln können. Seine Mutter erzählt Kelly im Interview, dass sie Jonas als kleinem Jungen beigebracht hat, dass Gewalt im Verteidigungsfall ok ist. Jonas befindet sich permanent im Verteidigungsfall, denn er muss dieses Selbstbild von sich verteidigen. Deshalb kann er nicht einsehen, dass er vergewaltigt hat.“

Stand: 17.01.2023, 16.00 Uhr