Hans-Ullrich Krause (Drehbuch)
Hans-Ullrich Krause (Drehbuch)
© Privat
Hans-Ullrich Krause wurde 1954 in Leipzig geboren und studierte Pädagogik an der Humboldt Universität Berlin. Er promovierte an der FU Berlin und entwickelte in den Neunzigern gemeinsam mit anderen Pädagoginnen und Pädagogen eine moderne Form der Kinder- und Jugendlichenbetreuung im Rahmen der Heim- und der Kitaziehung. Als Gastprofessor arbeitet er seit vielen Jahren an der Alice Salomon Hochschule Berlin und lehrt anderen Universitäten und Hochschulen. Neben seinen zahlreichen Fachpublikationen, schreibt Hans-Ullrich Krause Kriminalromane sowie Drehbücher für Fernseh- und Kino Filme. Für den vielfach ausgezeichneten Film „Der Fall Bruckner“, der von einer Mitarbeiterin des Jugendamts (Corinna Harfouch) handelt, die einem Fall von Kindesmisshandlung nachgeht, schrieb er zusammen mit Cooky Ziesche das Drehbuch und erhielt dafür 2015 den Grimme-Preis.
„Neben der großen Frage nach Schuld und Verantwortung hat dieser Film auch andere Themen. Mich hat interessiert, wie es um die Frage des ‚Risikos‘ steht. Moderne Gesellschaften setzen sehr viel daran, Risiken einzugrenzen, zu verringern oder ganz auszuschließen. Sie erfinden immer mehr, damit möglichst kein Schaden, kein Unglück entstehen kann. Das ist ja im Prinzip auch richtig. Und natürlich wäre es wunderbar, wenn niemandem ein Unfall, irgendein vermeidbares Unglück geschieht. Aber dieser Versuch alles zu kontrollieren, überall Warnbarken aufzustellen und alles zu kontrollieren, führt in einer Nebenwirkung dazu, dass wir Menschen unsere Achtsamkeit verlieren. Wir glauben, wenn wir uns nur an die Vorschriften zur Verhinderung von Problemen oder Unglücken halten brauchen, damit kein Unglück geschieht. Aber das ist ein Trugschluss. Denn je mehr wir unsere Achtsamkeit verlieren, desto gefährlicher wird es. Wenn irgendeine Sicherheitsvorrichtung nicht funktioniert, nur ein winziger Fehler stattfindet, dann sehen wir nicht, dass genau dieser kleine Aspekt der Auslöser für ein Fiasko werden kann. Wir haben kein Gefühl mehr für Gefahren, wir haben keinen Instinkt dafür, dass etwas schief gehen könnte.
Wenn man so will, fangen wir sehr früh damit an, Kindern die Verantwortung für Gefahren abzunehmen, weil wir alles aus dem Weg räumen, was gefährlich werden könnte. Das kann ich als Vater und Großvater natürlich völlig verstehen und mache es auch so, aber es führt zu dem beschriebenen Problem. Als seit vielen Jahren Verantwortlicher einer großen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung weiß ich natürlich auch, was Institutionen tun müssen und auch tun wollen, damit niemandem etwas passiert. Und es ist natürlich absolut wichtig, Risiken einzuschränken. Aber: Niemand sollte sich sicher fühlen, nur weil er oder sie sich an die Regel hält.
In unserer Filmgeschichte ist es ‚das Zählen‘ was u.a. eine trügerische Sicherheit erzeugt. Die Kindergruppe einer Kita geht raus in die Natur. Alles läuft reibungslos. Geordnet. Und weil es eben Vorschrift und üblich ist, dass die Anzahl der Kinder immer wieder überprüft wird, ist eine der Erzieherinnen dafür zuständig und nimmt ihre Aufgabe ernst. Doch eine übliche, kleine Veränderung bleibt unbemerkt. Weil eine andere Gruppe aufgeteilt werden muss, werden es zwei Kinder mehr. Eine völlig normale Situation in Kindergärten. Die größer gewordene Gruppe geht los und obwohl auch zwischenzeitlich gezählt wird, geht die verantwortliche Kollegin davon aus, dass die Zahl stimmt. Doch inzwischen sind zwei Kinder verschwunden. Es ist eine fatale Verkettung, wie erst ein paar Minuten später deutlich wird. Die beiden Kinder sind auf eigene Faust los um eine für sie wichtige Sache zu erkunden und können die Gefahr, in die sie sich bewegen nicht einschätzen.
Das ist der eine Teil unserer Geschichte. Der andere – und das ist auch die Handlung des Films – dreht sich um die Erzieherinnen, die von einem so unglaublich schrecklichen Unglück betroffen sind. Die wie aus heiterem Himmel vor einem Scherbenhaufen ihres bisherigen Lebens stehen. Jede der drei wird anderes damit umgehen. Wir bleiben bei der Gruppenleiterin, die nicht fassen kann, was den Kindern und damit auch ihr wiederfahren ist. Ihre Familie, ihr kleiner Sohn und ihr Mann sind ihre Haltepunkte, auch wenn sie das nicht wahrnehmen kann. Denn sie sucht verzweifelt nach den Gründen, warum ihr das passieren konnte. Wie blind vor Wut und Trauer stößt sie alle weg, die ihr doch nah sein wollen. Wir erleben, wie diese Gruppenleiterin, die eben noch hoch geschätzt war, von allen anderen umgehend ausgegrenzt und gemieden wird. Niemand will mit dem Unglück des anderen etwas zu tun haben.
Wir zeigen am Beispiel dieser Frau, die zu den besonders verantwortungsvollen und erfolgreichen Pädagoginnen zählt, zum einen, dass es eben jeden treffen kann. Andererseits erzählen wir die Geschichte eines Menschen, der ehrlich und entschlossen nach der Wahrheit sucht und sich dieser stellen will. Und dann geschieht das, was diese Figur dann eben doch die ganze Zeit verdrängt hat, sie erkennt, dass sie es selbst ist, die mit einem einfachen, fast schon trivialen Fehler, dazu beigetragen hat, dass dieses schreckliche Unglück möglich wurde. Und indem sie das erkennt, wird sie plötzlich vor die Frage gestellt: Soll sie nun also diesen Fehler offenbaren und damit die Schuld übernehmen? Im Verlauf des Films kann sich jeder bzw. jede von uns die Frage stellen: Wie hätte ich selbst entschieden?
Ich habe in diesem Drehbuch über die Arbeit von Kita Erzieherinnen geschrieben. Auch darüber, dass diese Arbeit, wie überhaupt die Arbeit in sozialen Berufen gar nicht hoch genug gewertschätzt werden kann. Ich glaube durchaus, dass die meisten Eltern sehr genau wissen, was Pädagoginnen in den Kitas leisten. Und der Ausbau und die deutliche qualitative Entwicklung der Kitabetreuung kann sich m.E. wirklich sehen lassen. Dass es in Sache Kita, Schule, Kinderheimen überall auch Defizite gibt, davon ist auszugehen. Aber es gibt auch überall großartige Kitas, erfolgreiche Schulen mit tollen Lehrerinnen und Lehrern und wunderbare Einrichtungen der Jugendhilfe. Leider nimmt man das in der Öffentlichkeit kaum wahr. In den Diskursen der Gesellschaft geht es immer nur um Mangel, Misserfolge und Probleme. Wenn ich gefragt werde, an was die Gesellschaften arbeiten sollte, dann würde ich sagen: an den Haltungen. Und damit sind wir bei einer der hauptsächlichen Aussagen des Films.“
Stand: 22.09.2022, 09.00 Uhr