Interview zum Zeitzeichen mit Gesa Rünker und Ronald Feisel
Interview zum Zeitzeichen mit Gesa Rünker und Ronald Feisel
„Das tägliche historische Überraschungsei“
50 Jahre Zeitzeichen – was für ein Jubiläum! Was ist das Besondere an dieser Sendung? Wie viele Zeitzeichen sind in dieser Zeit entstanden? Welche waren besonders beliebt? Und: Woran erinnern sich die Macher:innen besonders? Wir schauen zurück mit der aktuellen Teamleiterin Gesa Rünker und Ronald Feisel, der die Zeitzeichen-Redaktion von Oktober 2003 bis Ende 2021 leitete.
Gesa Rünker und Ronald Feisel
© WDR/Anja Cord/Annika Fußwinkel
Wie viele Zeitzeichen gibt es insgesamt?
Gesa Rünker: Wir haben recherchiert, dass das Zeitzeichen in all den Jahren nur ein einziges Mal ausgefallen ist: Im „Gründungsjahr“ 1972, beim Attentat während der Olympischen Spiele. Insgesamt kommen wir dann auf rund 18.250 Sendungen – mit eingerechnet ist der Beitrag zum 4. April 2022.
Welche Zeitzeichen waren bisher besonders beliebt?
Gesa Rünker: Das bis heute am meisten nachgefragte Zeitzeichen ist eines aus dem Jahr 1973. Thema war der Geburtstag des französischen Königs Ludwig XIV. am 5. September 1638, der Titel hieß aber „Warum der König so stinkt“. Interessanterweise handelte es sich dabei um ein völlig untypisches Zeitzeichen, ohne jeden Originalton, ohne aufwändige Hörspielszenen, ohne Musik und akustische Collagen. Aber der Autor Hans Conrad Zander, der übrigens bis heute Zeitzeichen produziert, hat damals derart bildreich und eindrücklich geschildert, warum ausgerechnet der Sonnenkönig wirklich bestialisch gerochen haben muss, dass man 15 Minuten lang fasziniert zuhört.
Ronald Feisel: Außerdem mag das Publikum auch unsere Aprilscherze immer wieder gern.
Erhält die Redaktion dazu besonders viele Rückmeldungen?
Gesa Rünker: Ja, so ist es! Wenn wir einmal im Jahr behaupten, dass auch finnische Astronauten schon auf dem Mond gelandet sind oder dass Adam Smith persönlich an einem bestimmten Tag den Kapitalismus erfunden hat – dann ist die Fake News zwar schnell zu durchschauen, aber das Hörvergnügen offenbar besonders groß. Diese Zeitzeichen gehören oft zu den am meisten abgerufenen Podcasts eines Jahres.
Haben Sie persönlich ein Lieblings-Zeitzeichen?
Gesa Rünker: Nein, das habe ich tatsächlich nicht. Die täglichen Beiträge sind thematisch so unterschiedlich, und sie sind alle gut. Ich komme gar nicht dazu, mein Herz dauerhaft an ein einziges Stück zu hängen.
Ronald Feisel: Das geht mir genauso! Die Vielfalt der Themen und die Vielfalt der Machart zeichnen das Zeitzeichen aus, das tägliche historische Überraschungsei. Deshalb kann man die Stücke schlecht vergleichen oder gar ein Zeitzeichen hervorheben.
Gibt es denn Zeitzeichen, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Gesa Rünker: Ja, solche Beiträge, die lange in mir nachklingen, gibt es immer wieder: Ein Beitrag zur Erinnerung an Sophie Scholl beispielsweise. Mir wurde in dem Beitrag noch einmal deutlich: Sophie Scholl hat – gemeinsam mit Freund:innen – enormen Mut bewiesen. Sie hat NICHT gesagt: „Ich kann es sowieso nicht ändern!“. Sie hat dafür bezahlt und ist hingerichtet worden. Ich neige nicht zur Heldenverehrung, aber das beeindruckt mich schon. In einem anderen Zeitzeichen ging es um die Verkürzung der Schulstunde auf 45 Minuten – das war im Jahr 1911 in Preußen. Da gab es eine Debatte unter Lehrern, die befürchteten, nun im Schweinsgalopp durch den Lehrplan hetzen zu müssen. Das Thema hat aktuellen Bezug, denn inzwischen gibt es einige Schulen, die den 45-Minuten-Takt aufgelöst haben. Einen aktuellen Bezug hat auch das Zeitzeichen, das wir am 1. März gesendet haben: Da geht es um das Zuwanderungsgesetz – Deutschland ist Einwanderungsland, wir brauchen Diversität!
Ronald Feisel: Mir bleiben die wunderbaren Autor:innen und Schauspieler:innen ewig in Erinnerung. Wir haben uns seit 2004 um ein Klima in der Redaktion bemüht, in dem jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin wertgeschätzt wird und einen Teamspirit gelebt, der sich immer auch positiv auf die Qualität der Formate überträgt. Das war auch in den schwierigen Zeiten wichtig, als der NDR aus dem Zeitzeichen ausstieg und der Stichtag zu Radio Bremen wanderte.
© WDR
Wie finden Sie die Themen?
Ronald Feisel: Es gibt mehrere Quellen, eine ist die ARD-Datenbank „Zeitlupe“, bei deren Aufbau die Redaktion mitgeholfen hat.
Gesa Rünker: Und natürlich sichten wir dann auch bei Wikipedia – und wir erhalten Vorschläge: von unseren Autor:innen und auch von Hörer:innen.
Was sind die Kriterien für ein Zeitzeichen?
Ronald Feisel: Eine gute Mischung von Epochen und Themen und der Fünf-Jahres-Algorithmus. Es kommen also nur Themen in Betracht, die folgende Kriterien erfüllen: Heute vor 5, 10, 15, 20, 25 usw. Jahren. Bei ganz runden Stichtagen, wie Ausbruch des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erwarten die Hörer:innen, dass wir das Thema machen.
Gesa Rünker: Ein Kriterium ist natürlich auch „Relevanz“: Wer oder was war historisch wichtig? Da geht es um Staatsgründungen, Kriegserklärungen, Friedensschlüsse – und historisch wirkmächtige Persönlichkeiten, die wir manchmal --
selbstverständlich mit Fakten begründet – auch vom Sockel stoßen, wie das Beispiel des stinkenden Sonnenkönigs zeigt. Wir suchen außerdem die Alltagsgeschichten: Erfindung der Kartoffelchips etwa. Und: Bevor wir uns für ein Thema entscheiden, das nicht glasklar auf der Hand liegt, fragen wir uns: Hält die Geschichte Hörer:innen 14 Minuten lang bei der Stange?
Wie weit im Voraus planen Sie die Themen?
Ronald Feisel: Die Planung erfolgt sechs Monate im Voraus.
Gesa Rünker: Zur Zeit haben wir die Sendungen bis Ende September geplant und besprechen die Themen demnächst mit den Autor:innen.
Wer ist alles an der Erstellung eines Zeitzeichens beteiligt?
Ronald Feisel: Wir haben 65 freie und feste Autor:innen, 15 Schauspieler:innen, drei feste Techniker:innen und eine vierköpfige Redaktion: Dazu gehört neben den drei Redakteur:innen auch eine Redaktionssekretärin.
Gesa Rünker: Die Redaktion entscheidet über die Themen, die Autor:innen übernehmen die Themen, Redakteur:innen unterstützen sie und sind programmverantwortlich. Bei der Recherche unterstützen uns Kolleg:innen in Archiven, und natürlich sind wir darauf angewiesen, dass Zeitzeug:innen und Expert:innen uns für Gespräche zur Verfügung stehen. Bei der Umsetzung der Beiträge helfen Kolleg:innen aus der Technik. Klar, viele Autor:innen produzieren inzwischen selbst. Aber aufwändige Beiträge, schön produziert - da ist die Zusammenarbeit mit Techniker:innen weiterhin oft hilfreich. Wir nutzen in den Beiträgen natürlich fast immer Zitate, aussagekräftige Quellen wie Briefe, Erinnerungen, Verträge und Literatur. Fremdsprachige O-Töne müssen übersetzt werden. Bei all dem unterstützen uns professionelle Sprecher:innen, Kolleg:innen aus dem WDR und freie Schauspieler:innen.
Stand: 04.04.2022, 09.00 Uhr