Alexander Bickel, WDR Programmbereichsleiter Fiktion, zu „Gefangen“

Alexander Bickel, WDR Programmbereichsleiter Fiktion, zu „Gefangen“

Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fiktion
© WDR/Annika Fußwinkel

Ist das Leben als Ganzes die Summe der Möglichkeiten, die es bietet? Oder aber das, was übrigbleibt, wenn die Entscheidungen alle getroffen, die alternativen Lebenswege alle verstellt sind? Der Polizist Harry macht auf den ersten Blick nicht den Eindruck als würden ihn solche Fragen bekümmern – ein Mann, der in sich ruht, scheint es, der seine Entscheidungen ohne Bedauern trifft. Dann aber wird er Zeuge eines Verkehrsunfalls, bei dem eine ganze Familie ihr Leben verliert. Der Vater war ihm noch am Abend zuvor bei einer Verkehrskontrolle begegnet; mit einem gutgemeinten Rat anstatt einer Verwarnung hat er ihn ziehen lassen.

Harry kommt ins Grübeln, wird nachdenklich, verschließt sich vor seiner schwangeren Frau Ellen und vor den Kolleg*innen. Seine Chefin vermutet ein Trauma und schickt ihn zur Psychologin. Da ist Harry schon eingetaucht in die Vorstellung, dass ihn und den toten Familienvater mehr verbindet als ein Zufall. Da hat er bereits angefangen, sich dieses fremde Leben als sein eigenes anzuverwandeln, magisch angezogen von dem kleinen Haus am Waldrand, in der Nähe des Sees, in dem die verunglückte Familie gelebt hat.

In ihrem ersten Fernsehfilm nimmt Autorin und Regisseurin Elke Hauck einmal mehr die Frage nach der Natur des menschlichen Daseins in den Blick. Und erzählt wie schon in ihren Arbeiten fürs Kino eher knapp und andeutungsvoll und in suggestiven Bildern die Geschichte eines Mannes, dessen Leben viele Leben sind. Nicht bloß das, was wir gerade sehen. Wolfram Koch spielt den Harry meisterhaft zurückgenommen, sozusagen mikroskopisch – im selben Zug ein Gegenentwurf zum charismatisch-coolen Bild des FernsehCops wie sein um den Blick fürs Wesentliche vertieftes Spiegelbild.

Neben Wolfram Koch spielen u.a. Antje Traue, Godehard Giese, Sebastian Schwarz, Anna Böger und Lola Liefers. Dieser FilmMittwoch im Ersten prägt sich aber auch der ausdrucksstarken Bilder von Kameramann Patrick Orth wegen ein. „Gefangen“ ist kein Film der leicht zu durchschauenden Zusammenhänge, der klaren Bezüge von Ursache und Wirkung. Aber ganz entschieden eine sehr filmische Auseinandersetzung mit dem was zwischen Ursache und Wirkung liegt, dem spannungsvollen Feld der Möglichkeiten, der tatsächlichen und der bloß eingebildeten. Ein Fernsehfilm, der funktioniert wie eine Meditation über das Leben als Ganzes: hochkonzentriert und dabei überreich an überraschenden Wendungen.

Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fiktion

Stand: 10.03.2021, 12.00 Uhr