Interview mit Regisseur und Drehbuchautor Jörg Lühdorff

Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft

Interview mit Regisseur und Drehbuchautor Jörg Lühdorff

„Es geht mir nicht um den erhobenen Zeigefinger“

Wie ist das Thema des Films zu Ihnen gekommen?

Ich war schon recht früh davon angefixt, hatte aber zunächst keine Idee, wie ich es einem größeren Publikum näher bringen konnte. Als ich dann auf einen längeren Artikel stieß, der diesen Themenkomplex von allen Seiten beleuchtete, war das für mich so etwas wie ein Wendepunkt.

Warum Wendepunkt?

Wegen eines kurzen Abschnitts, in dem es um die Bonner Anwältin Beatrix Hüller ging. Von ihrer Geschichte – also dass sie bei einer Versicherung angestellt war und dann die Seite gewechselt hat – hatte ich zuvor noch nie etwas gehört. Auf einmal gab es da eine Person, deren Biografie mir ideal erschien, um dieses Versicherungsthema nicht rein negativ zu erzählen, sondern in eine fast klassische Heldengeschichte zu packen und diese wahnsinnig tragische Dramatik für das Fernsehpublikum dadurch konsumierbar zu machen. Ich habe Frau Hüller noch am selben Tag eine E-Mail geschickt, weil ich Angst hatte, dass mir jemand diesen Ansatz wegschnappt. Sie hat zum Glück sofort geantwortet. Es war ein Sonntag, sie war in der Kanzlei, und wir haben dann erst einmal telefoniert und ein Treffen vereinbart. So nahm dieses Projekt seinen Lauf.

Filmszene Verunsichert

Regisseur und Drehbuchautor Jörg Lühdorff (re), Kameramann Philipp Timme und Karoline Bär in der Rolle der Sachbearbeiterin im Fall Strelau, Judith Broichhausen.
© WDR/Zeitsprung Pictures/Guido Engel

Und Frau Hüller hat Sie auf dem gesamten Weg begleitet?

Genau. Ich habe natürlich sehr viel selbst recherchiert, sie aber doch relativ früh ins Boot geholt und ihr auch viele Fragen zu ihrer Biografie gestellt.

Wie nah ist der Film an Frau Hüllers Lebensgeschichte dran?

Näher, als ich es am Anfang gedacht hatte. Klar, die Versicherungsfälle, die wir im Film besprechen, mussten wir natürlich fiktiv halten. Wir wollten keine wahren Opfergeschichten thematisieren. Aber diesen Wendepunkt in ihrem Leben, den gab es zum Beispiel tatsächlich – also dass ein Mensch gestorben ist, dem sie zuvor eine Absage erteilt hatte, so dass sich die Versicherung um die Auszahlung drücken konnte. Es gibt noch viele weitere Details in dem Film, die authentisch sind. Frau Hüller ist bei ihrer Suche nach einer Kanzlei tatsächlich auf eine gestoßen, in der ein stadtbekannter Alkoholiker arbeitete. Sie war so ziemlich die einzige, die das nicht mitbekommen hatte. Weil ich zuvor noch keine biografische Verfilmung gemacht hatte, war ich mir zunächst unsicher, wie weit ich mich von der Originalgeschichte trennen konnte und musste. Mir wurde dann klar, dass ich nach dramaturgischen Aspekten vorgehen muss, ohne die Geschichte dabei zu verlieren.

Henny Reents spielt Franziska Schlüter, und das – wie ich finde – herausragend.

Schon beim Casting hat mich ihr Spiel sofort sehr berührt. Ich habe da zum ersten Mal begriffen, wie man diese Figur anlegen muss, damit sie nicht die komplette Handlung mit einer Tragik überlagert, die beim Zuschauer irgendwann einen Abwehrmechanismus auslösen könnte. Bei Henny Reents spürte ich gleich diese Tapferkeit, mit der ihre Figur diese schier unlösbar scheinende Herausforderung annimmt.

Franziskas Kanzleikollege Franz Sachtler scheint zunächst ein zusätzlicher Problemfall zu sein, entwickelt sich dann aber zu ihrem Mentor ...

Martin Brambach für diese Rolle zu bekommen war sehr schwierig, er arbeitet ja unglaublich viel. Zum Glück war er für die Geschichte aber sofort Feuer und Flamme. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er sich darauf eingelassen hat, in unserem Film mitzuwirken.

Was macht Martin Brambach so besonders?

Er vereint einen gewissen Spielwitz und durchaus auch Humor mit einer tiefgründigen Tragik. Das ist ein schmaler Grat, den er auf ganz tolle und unterhaltsame Weise bewältigt. Was mich sowohl an ihm als auch an Henny Reents begeistert hat, ist, dass sie mich so oft überrascht haben.

Inwieweit überrascht?

Wenn man selbst schreibt, hat man eine sehr klare Vorstellung, wie die Figuren miteinander sprechen, wie sie sich verhalten – der ganze Film geht einem beim Schreiben durch den Kopf. Und wenn man dann zwei Schauspieler hat, die einen immer wieder überraschen, mit Dingen, die man sich nicht vorgestellt hat, dann begeistert mich das und hoffentlich demnächst auch den Zuschauerinnen und Zuschauer. Eben weil es nicht immer das Erwartbare ist, was man zu sehen bekommt. Sicherlich ist vieles vorgegeben und steuert ein bestimmtes Ziel an. Es geht aber um die Feinheiten. Um die Facetten, die Figuren als Menschen erscheinen lassen – als Menschen mit all ihren nicht kalkulierbaren Unwägbarkeiten. Nichts ist langweiliger, als wenn Figuren eine klare Schiene entlangfahren und man immer ganz genau weiß, wer gut ist und wer böse. Menschen sind ambivalent, und die Ambivalenz einer Figur entsteht eben sehr oft in den Momenten, in denen das Überraschende geschieht.

In „Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft“ zeigen Sie einen Fall, in dem der Gesetzgeber eindeutig die Wirtschaft bevorteilt – zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger.

Wenn man jetzt sieht, wie Krisen bewältigt werden, ist es aus Politikersicht ja auch nachvollziehbar zu sagen: Wenn ich die Wirtschaft unterstütze, dann helfe ich dem ganzen Land. Im Einzelfall bedeutet das allerdings auch, dass der ein oder andere dabei über die Klippe springt. Ich verstehe das Denken der Politiker und auch, dass die Versicherungen im europäischen Wettbewerb unter Druck stehen. Und trotzdem bleibt die Tatsache, dass Versicherungskunden berechtigte Auszahlungen verweigert werden, weil sie die Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen beweisen müssen und dafür nicht die Mittel haben, ein Skandal. Man muss sich ja nur anschauen, was Menschen dadurch angetan wird. Dieses Thema ist mir wirklich sehr wichtig, aber: Es geht mir nicht um den erhobenen Zeigefinger. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sich an der Hauptfigur erfreuen, mit ihr mitfiebern, und sich von dem Film unterhalten fühlen. Wenn sie dann noch etwas von dem Inhalt mitnehmen, dann haben wir unsere wichtigsten Ziele erreicht.

Vor welche besonderen Herausforderungen hat Sie dieses Projekt gestellt?

Den Stoff einzukürzen. Am Anfang las sich mein Treatment noch wie ein Zweiteiler, obwohl wir eine ganz klare Verabredung hatten, einen 90-Minüter zu machen. Also galt es, aus der enormen Fülle von Informationen und spannenden Konzepten ein Konzentrat zu destillieren. Der Rohschnitt war dann allerdings immer noch fast 120 Minuten lang. Und das auf 90 Minuten runterzukürzen ... Wir mussten ganze Stränge opfern und Schauspieler komplett herausschneiden. Das tat weh, ganz klar, aber ich finde, am Ende hat diese Verdichtung dem Film gut getan.

Welche Herausforderungen gab es noch?

Mit Franziska Schlüter habe ich eine Figur, die schon am Anfang des Films weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Sie hat einen Teil ihrer Entwicklung also schon abgeschlossen. Für mich stellte sich also die Frage, wie ich diese Entwicklung trotzdem erzählen kann, und zwar über den ganzen Film verteilt. Deswegen kam ich irgendwann auf diese Freundin, Judith, die zeitlich versetzt die gleiche Entwicklung durchmacht wie Franziska. Bis ich an diesem Punkt war ... doch, das war schon ziemlich herausfordernd.

Stand: 17.08.2020, 12.00 Uhr