Die wilden Jahre – Unser Land in den 70ern

Die wilden Jahre – Unser Land in den 70ern

Ein Film von Lukas Hoffmann & Martin Herzog sowie Jobst Knigge, Nicole Kraack, Frank Diederichs, Anke Rebbert

Torsten Schorn

Erzählt wird der Film über Unser Land in den 70ern von WDR 2-Moderator Thorsten Schorn, selbst ein Kind der 70er.
© WDR/Dirk Borm

Das Leben ist eine Baustelle, heißt es. NRW ist eine Dauerbaustelle. Das gilt ganzbesonders für die 70er: Nordrhein-Westfalen wurde umgebaut, von Grund auf.Lebensadern wie der Ruhrschnellweg wurden fertig gestellt, und eine ganze HandvollFußballstadien eigens für die WM 74. Hochhäuser kratzten plötzlich am Himmel. Anderenfiel der Himmel auf den Kopf: Schornsteine und Fabriktürme wurden dem Erdbodengleichgemacht. Der Wandel kam mit Macht: Noch rauchten die Kamine derSchwerindustrie und trieben die Wirtschaft an. Doch das Zechensterben war in vollemGang, Hochöfen und Stahlwerke machten reihenweise dicht. Computer-Firmen wieNixdorf in Paderborn zeigten schon Anfang der 70er, wohin die Reise ging. High-Techstatt Schwerindustrie.

So ergab sich ein seltsames Nebeneinander von Alt und Neu: Von Bergarbeitersiedlungenund futuristischen Wohnkonzepten, wie das Colonia-Hochhaus in Köln, bis heute eins derhöchsten Wohnhäuser Europas. Auch im Verkehr prallte Altes auf Neues:Dampflokomotiven waren noch keine Museumsstücke, sondern fuhren nach Fahrplan,während in Hochschulstädten wie Aachen kräftig am ersten Elektro-Auto gearbeitet wurde.In manchen Gegenden von Siegerland und Eifel wurden die Felder noch mit Ackerpferdenbestellt, während im Tal von Effelsberg ein riesiges Ohr ins All entstand - für viele Jahredas größte voll bewegliche Radioteleskop der Welt.

Und das nicht nur in der Wirtschaft: Die kommunale Gebietsreform machte mächtig Ärger.Bürger ließen sich nicht mehr alles vor die Nase setzen. Im Gefolge der 68er kam eineregelrechte Protestkultur auf: Proteste kleiner Gemeinden gegen die Vereinnahmungdurch die großen Städte; Proteste für den Minirock und gegen die Fremdbestimmung derFrau; Proteste gegen Atomkraftwerke.

Die 70er waren ein verrücktes Jahrzehnt, in NRW vielleicht noch wilder als anderswo,geprägt von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von RAF-Terror, Angst,Rasterfahndung. Aber auch von fantastischen Höhenflügen, für die Menschen aus NRWsorgten. Menschen wie Fußball-Legende Bertie Vogts, der 1970 zunächst mit derBorussia Mönchen-Gladbach Deutscher Meister wurde, und vier Jahre später mit derNationalmannschaft auch noch die Weltmeisterschaft gewann. Menschen wie JulianeWerding aus Essen, die mit dem Lied „Der Tag, als Johnny Kramer starb“ die Hitparadeneroberte. Menschen wie Ulrike Meyfarth aus Wesseling, die bei den Olympischen Spielen

1972 nicht nur die Goldmedaille im Hochsprung gewann, sondern gleich noch einenneuen Weltrekord aufstellte. Ebenfalls dabei sind auch der damalige NRW-InnenministerBurkhard Hirsch, Schauspielerin Marie-Luise Marjan, Frauenrechtlerin Alice Schwarzerund Undercover-Journalist Günter Wallraff. Im 90-minütigen Kinofilm „Die wilden Jahre“erzählen sie ihre Geschichten, teils mit bislang unbekannten Details und selten gezeigtemFilmmaterial aus dem WDR-Archiv.

Aber auch weniger bekannte Menschen aus unserem Land kommen zu Wort, die dasLeben in unserem Land in den 70ern oft genauso bewegt haben, und die von unseremLand geprägt wurden: Da ist der GSG-9-Mann Dieter Fox, der nach seiner Ausbildung inSt. Augustin im Antiterroreinsatz bei der Suche nach dem entführten ArbeitgeberpräsidentSchleyer eingesetzt war und zu dem Kommando gehörte, das die Geiseln in derentführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ befreite. Da ist die Vietnamesin Le Tu Phuong,die als 15-Jährige nach Oberhausen kam, um medizinisch behandelt zu werden und inNRW strandete. Da sind die Brüder Richie und Volker Kahl, die „Travoltas von der Ruhr“,die sich in den neuen Diskos von der Revier-Tristesse los tanzten; und Jochen Bludau,der „Old Shatterhand von Elspe“, der es schaffte, den „ einzig echten“ Winnetou für dieKarl-May-Festspiele zu verpflichten: Pierre Brice.

Wie Mosaiksteine ergeben ihre Geschichten ein lebendiges Bild vom Leben in den 70ernin NRW als ein Leben im Wandel, im Um- und Aufbruch, Bei all den Veränderungen indieser Zeit und seitdem, zeigt sich, dass viele Probleme und Themen damals gar nicht soanders gelagert waren als unsere heutigen: von Umweltschutz bis Terrorangst, vonGleichberechtigung bis demokratische Mitbestimmung.

Erzählt wird der Film über Unser Land in den 70ern von WDR 2-Moderator Thorsten Schorn,selbst ein Kind der 70er: Seinen bis heute anhaltenden Faible für die Farbe Orange führt erauf ein frühkindliches Kinderwagen-Trauma zurück.

Die wilden Jahre – Unser Land in den 70ern
Ein Film von Lukas Hoffmann & Martin Herzogsowie Jobst Knigge, Nicole Kraack, Frank Diederichs, Anke Rebbert
Schnitt: Maximilian Narkovic
Redaktion: Christiane Hinz, Barbara Schmitz (WDR)Produktion: Broadview TV

Stand: 20.09.2021, 16.50 Uhr