Ein Missbrauch, den es nie gab

Menschen hautnah

Ein Missbrauch, den es nie gab

Wie eine falsche Erinnerung fast eine Familie zerstörte

Ein Film von Phillis Fermer

Menschen hautnah

Phillis Fermer hat Andrea K. (Foto) und ihre Eltern portraitiert.
© WDR/P. Fermer

„Wir haben gedacht, die Welt bleibt stehen. Ich habe laut geweint und gerufen: Herr unsere Kinder. Das kann man doch nicht verstehen. Es war doch nie was vorgefallen.“ Die alte Dame sitzt neben ihrem Mann im Wohnzimmer und kann heute – 20 Jahre danach - noch nicht fassen, was damals passierte. Ihr Ehemann kann seit dem Geschehenen kaum noch sprechen. Denn das Unvorstellbare ist passiert: Drei ihrer vier Kinder haben sich von ihnen losgesagt, schlimmer noch, sie haben sie vor Gericht gezerrt. Weil die Kinder meinten, sich an sexuellen Missbrauch zu erinnern. In ihrer Kindheit. Durch den eigenen Vater. Und die Mutter habe zugeschaut.

Wie konnte es dazu kommen?
Andrea K.s Leben vor 20 Jahren ist alles andere als einfach. Ihr Job im Schichtdienst als Intensivschwester anstrengend, die Ehe kompliziert, die Söhne in der Pubertät. Sie fühlt sich ausgebrannt und sucht Hilfe bei einer Lebensberaterin. Anfänglich helfen ihr die Sitzungen und sie empfiehlt diese Lebensberaterin weiter an ihre Geschwister. Aus ihnen und anderen Klienten wird im Laufe der Zeit eine feste Gruppe, die sich treffen, über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen, aber auch, um ihre Freizeit miteinander zu verbringen, gemeinsam zu feiern. Die Gruppensitzungen stehen allerdings immer unter einer besonderen Überschrift und irgendwann geht es auch um sexuellen Missbrauch.

Die Gruppe spricht darüber und wie bei anderen Themen auch entstehen Bilder in ihren Köpfen. Doch diesmal sind die Bilder so stark, dass Andrea K. irgendwann glaubt, sie sei tatsächlich sexuell missbraucht worden. Von ihrem Vater. Und die Mutter hätte es gedeckt. Ihre Geschwister sehen diese Bilder auch, Bilder, die sie für Erinnerungen halten.

Wie funktionieren falsche Erinnerungen?
Professorin Renate Volbert von der Berliner Charite ist Psychologin. Ihr Spezialgebiet sind Erinnerungen. Und sie weiß, dass das Gehirn durchaus in der Lage ist, sich an Dinge zu erinnern, die in Wahrheit nie statt gefunden haben. Wenn bestimmte Vorstellungen und Bilder immer wieder aufgerufen und dann mit eigenen, realen Erinnerungen und Erlebnissen kombiniert werden, kann es irgendwann zu vermeintlichen Erinnerungen kommen, sogenannte Pseudoerinnerungen. Diese Pseudoerinnerungen haben mit tatsächlichem sexuellen Missbrauch nicht das geringste zu tun. Prof. Volberts Aufgabe ist es, Strategien zu entwickeln, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Andrea K. und ihre Geschwister brechen den Kontakt zu ihren Eltern ab, zeigen die Eltern sogar an. Erst Jahre später, in einer Psychotherapie, wird Andrea klar: Ihre Erinnerungen sind falsch. Sie ist das Opfer von so genannten Pseudoerinnerungen. Mit fatalen Folgen für ihre Eltern, aber auch für Andrea selbst und ihre Söhne.

Heute hat Andrea wieder Kontakt zu ihren Eltern. Sie hat es geschafft, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen. Und ihre Eltern haben ihr verziehen. Phillis Fermer hat Andrea K. und ihre Eltern portraitiert und zeigt in diesem eindrucksvollen Menschen Hautnah, dass aus einer solchen Geschichte niemand heil heraus kommt.

Redaktion: Britta Windhoff

Stand: 29.09.2014, 11.30 Uhr