Die Story im Ersten: Mütter, Väter, Kinder im Stress
Die Story im Ersten: Mütter, Väter, Kinder im Stress
Ein Film von Diana Löbl und Peter Onneken

Sonja S. ist Krankenschwester und alleinerziehend.
© WDR/bunt.schoen.laut
Schichtdienst, Kinderbetreuung, einkaufen, Hilfe bei den Hausaufgaben, Haushalt – Krankenschwester Sonja fühlt sich abends wie nach einem Marathon und fällt oft schon um 20 Uhr todmüde ins Bett. Eigentlich arbeite sie "jeden Tag nur noch Listen ab, in der Hoffnung, dass nichts übrig bleibt, was dann auf die Liste des nächsten Tags wandert“, so die 43-jährige Alleinerziehende.
Immer im Hamsterrad, rund um die Uhr funktionieren – der Druck auf Familien war schon vor Corona enorm und nun sind viele an ihrer Belastungsgrenze. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Mütter mit Burn-Out, Schlafstörungen, Angstzuständen und chronischen Kopfschmerzen um 40 Prozent gestiegen, berichtet das Müttergenesungswerk.
Doch es sind nicht nur die Mütter, die leiden: 40 Prozent der Väter fühlen sich laut einer Familienstudie der AOK zeitlich überlastet und 82 Prozent der Kinder zeigen Stresssymptome, so eine Studie der Uni Bielefeld.
In unserer Gesellschaft geht der Wunsch nach Selbstoptimierung und Perfektionismus bis tief in die Familien hinein. Sie spiegeln die Sehnsucht unserer Zeit danach, dass immer alles jederzeit möglich ist, so die Psychologin Birgit Langebartels.
Der beste Papa sein
Auch der Anspruch von Boris an sich selbst ist sehr hoch: Der zweifache Vater will zu Hause und bei der Arbeit alles geben, "das Beste aus meinem Leben rausholen", auch wenn das heißt, dass er in manchen Nächten nur drei oder vier Stunden schläft.
Das letzte Mal mit einem Freund unterwegs war Boris vor drei Jahren, erzählt er. Er möchte gerne, dass seine Kinder später von ihm sagen "dass er ein toller Papa war, der Beste". Dafür hat Boris seinen gutbezahlten Posten als Facharbeiter bei einem großen Pharmakonzern gegen einen Job bei einem Mittelständler getauscht. Er ist jetzt nicht mehr täglich drei Stunden auf der Autobahn, aber das heißt für die Familie auch: weniger Geld.
Seine Frau geht deswegen wieder arbeiten. Er steht nun um vier Uhr morgens auf, um am Nachmittag wieder zu Hause zu sein – dann geht seine Frau arbeiten und er versorgt die beiden Kleinkinder. Das ist ein täglicher Spagat. Laut Väterreport des Bundesfamilienministeriums fänden es 60 Prozent der Väter ideal, sich den Alltag partnerschaftlich zu teilen, verwirklicht wird es aber nur von 14 Prozent.
Mütter immer noch zuständig für Familie
Marion ist IT-Leiterin. Im Homeoffice hat sie bis zu zehn Telefonkonferenzen täglich, die Hausarbeit bleibt überwiegend an ihr hängen. Marion fährt auf ihrem Lastenrad, dem Mama-Taxi, ihre Kinder täglich knapp 15 Kilometer kreuz und quer durch Frankfurt. Ihr Mann konzentriert sich vor allem auf seine Arbeit, sie ist oft an den Grenzen ihrer Belastbarkeit.
Marion möchte es gerne "perfekt haben" in ihrem Leben. Sie möchte gerne in Vollzeit arbeiten, erfolgreich sein und eine gute Mutter. Aber dadurch bleibt eigentlich nur noch wenig von ihr selbst übrig. “Am meisten gelitten hat aber die Beziehung zu meinem Mann", sagt sie. Anne Schilling vom Müttergenesungswerk begründet die starke Belastung der Frauen so: "Es hat sich einerseits viel verändert, weil das Frauenbild sich sehr weiterentwickelt hat, weil wir heute das Modell einer gleichberechtigten Frau haben, (…). Gleichzeitig haben sich aber die Rollenbilder und vor allen Dingen das traditionelle Familienbild nicht wirklich verändert, und das heißt, dass sozusagen Müttern ganz schnell die Zuständigkeit für Familie zugeschrieben wird (…)."
Kinder sind überfordert
Und die Kinder? Die außerschulischen Aktivitäten haben in den letzten Jahren mehr und mehr zugenommen. Der Kinderpsychologe Professor Michael Schulte-Markwort warnt: "Der Stundenplan vieler Schüler ist heute vergleichbar mit dem eines Topmanagers." In seiner Hamburger Praxis behandelt er viele Kinder, die an diesem System scheitern und an Erschöpfungsdepressionen leiden. "Erschöpfung, Depressionen als letzter Ausweg sozusagen aus Überforderungssituationen, die haben sicherlich zugenommen. Das ist ein Phänomen, das wir etwa seit den letzten fünf Jahren beobachten. Und das hat damit zu tun, dass Kinder immer mehr mit dem, was ich eine durchdringende Ökonomisierung nenne, oder man könnte es auch übersetzen, in ein durchdringendes Leistungsprinzip, konfrontiert sind.“
"Die Story im Ersten" taucht tief ein in den Alltag deutscher Familien und zeigt, dass die Familie der Spiegel unserer sich selbst optimierenden Leistungsgesellschaft ist.
Ein Film von Diana Löbl und Peter Onneken
Stand: 06.11.2020, 13.00 Uhr