Fast jedes vierte Pestizid in EU per Ausnahmegenehmigung auf dem Markt – Hochgiftig und trotzdem zugelassen

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Fast jedes vierte Pestizid in EU per Ausnahmegenehmigung auf dem Markt – Hochgiftig und trotzdem zugelassen

Tracktor mit Pestizidspritze auf Wiese

© imageBROKER / newspixx vario ima

Fast jedes vierte Pestizid wird in der EU per Ausnahmegenehmigung zugelassen – und das nur, weil Behörden zu langsam arbeiten. Darunter befinden sich auch hochtoxische Stoffe, die unter Verdacht stehen, schwere Gesundheitsschäden zu verursachen oder krebserregend zu sein. Das zeigen Recherchen des ARD-Magazins MONITOR (Donnerstag, 15.11.2018, 21.45 Uhr im Ersten). 112 von insgesamt 489 Stoffen sind demnach aktuell nur mit einer Zulassungsverlängerung, also ohne die sonst vorgeschriebene abgeschlossene Neuprüfung zu Wirkung und möglicher Giftigkeit des Stoffes, auf dem Markt. Die Stoffe kommen in der Landwirtschaft, in Gärtnereibetrieben, manche aber auch über handelsübliche Produkte in Privathaushalten zum Einsatz.

Einige Stoffe dürften laut Aussage von Fachleuten im Regelverfahren nicht mehr auf den Markt gelangen. „Diese Stoffe sind meines Erachtens überhaupt nicht mehr zulassungsfähig, weil sie extrem humantoxisch sind, für die Menschen giftig sind, und weil sie auch extrem toxisch für die Umwelt sind“, sagt der Toxikologie Hermann Kruse (ehemals Universität Kiel). Einige der Stoffe seien „toxischer als Glyphosat“. Dabei handele es sich um Stoffe, „die das Nervensystem der Menschen angreifen und zum Teil auch im Verdacht stehen, krebserzeugend zu sein.“

Artikel 17 der einschlägigen EU-Verordnung sieht vor, den Genehmigungszeitraum eines Wirkstoffes zu verlängern, wenn die bearbeitenden Behörden zu langsam arbeiten. Eine Verlängerung kann demgemäß erteilt werden, falls die Entscheidung im Regelverfahren länger dauere als vorgesehen und zwar „aus Gründen, die der Antragsteller nicht zu vertreten hat“.

Deutschland gehört in der EU zu den Spitzenreitern, was die Bearbeitungszeit im Zulassungsverfahren betrifft. Allein vier Behörden (UBA; JKI; BFR und BVL) sind an diesem Prozess beteiligt. In einem EU-Audit von 2016 wurde die Bundesrepublik Deutschland dafür kritisiert, dass sie im Durchschnitt bis zu sechs Mal längere Bearbeitungszeiten für manche Zulassungsverfahren brauche als in der Verordnung vorgesehen.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) wies die Kritik an vielen Ausnahmeverlängerungen von Pestiziden wegen Fristüberschreitungen deutscher Behörden zurück. Auf Anfrage von MONITOR erklärte das BMEL, dem die Koordination der Pestizidzulassung in Deutschland unterliegt, „im Geschäftsbereich des BMEL“ sei „die Verfristungsproblematik gelöst.“

Trotzdem wurden seit 2016 allein 22 Wirkstoffe, bei denen Deutschland Haupt- oder Mitberichterstatter für die EU ist, ohne inhaltliche Begründung verlängert, da die beteiligten Behörden die Frist für die erneute Zulassung überschritten hatten. Darunter befinden sich mindestens neun Stoffe, die laut Experten wegen ihrer Giftigkeit nicht mehr zugelassen werden dürften.

Der EU-Abgeordnete Martin Häusling (Bündnis 90/ DIE GRÜNEN) kritisierte die deutschen Behörden scharf. Sie machten sich mit ihrer Langsamkeit „zum Handlanger“ und hielten „Konzerninteressen eher für wichtig als Gesundheitsinteressen der Bevölkerung“. Angesichts der Größenordnung der Ausnahmegenehmigungen in der EU insgesamt sprach er von einem „Skandal“, es gebe „Kontroll- und Zulassungsdefizite.“ Häusling ist Mitglied des Pestizid-Ausschusses des Europäischen Parlaments, das gerade die europäischen Zulassungsverfahren prüft.

Stand: 15.11.2018, 06.00 Uhr