„Täter, die keine waren? – Die umgekehrte Aufarbeitung einer Stasigeschichte“ – Recherchen entkräften Stasi-Vorwürfe gegen Heike Drechsler.
ARD radiofeature im Oktober
„Täter, die keine waren? – Die umgekehrte Aufarbeitung einer Stasigeschichte“ – Recherchen entkräften Stasi-Vorwürfe gegen Heike Drechsler.
Heike Drechsler war keine inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi, sie hat nicht als „IM Jump“ für die Stasi gespitzelt. Zu diesem Schluss kommt die Journalistin Heike Otto, die gut zwei Jahre lang die Vorwürfe gegen Drechsler für das ARD radiofeature untersucht hat. Die Autorin hat dafür mit Weggefährten und Experten gesprochen sowie zahlreiche Akten bei der Stasi-Unterlagen-Behörde angefordert. Demnach hatte Heike Drechsler zwar als Begünstigte Kontakte zur Stasi, hat aber nie wissentlich und willentlich für die DDR Spitzel-Behörde gearbeitet. Eine Verpflichtungserklärung oder von Drechsler verfasste Spitzel-Berichte gibt es nicht.
„Täter, die keine waren? – Die umgekehrte Aufarbeitung einer Stasigeschichte“ heißt das neue ARD radiofeature. Ab Mittwoch, 24. Oktober 2018, ist es in sieben Wort- und Kulturwellen der ARD zu hören und im Internet unter www.radiofeature.ard.de.

"das ARD radiofeature" begibt sich auf Spurensuche. Recherchiert Hintergründe und Zusammenhänge, sucht nach der Wahrheit hinter der Wirklichkeit.
© WDR/ddp images/Theo Heimann
Heike Drechsler – sportliches Aushängeschild in der DDR und auch im wiedervereinigten Deutschland eine Berühmtheit, mehrfache Welt- und Europameisterin, zweifache Olympiasiegerin. Die Stasi-Vorwürfe belasten die 53-Jährige bis heute: „Das kommt immer hoch, und jedes Mal kriege ich regelrecht Bauchschmerzen, weil es nicht so stimmt.“ Deshalb bittet sie schließlich die Feature-Autorin Heike Otto, sich mit ihrem Fall zu beschäftigen. „Ich will einfach, dass das rauskommt aus meinem Lebenslauf“, sagt Drechsler.
Beide Frauen sind seit über zwei Jahrzehnten eng befreundet. Drechsler vertraut Otto. Und als Journalistin bekommt diese deutlich schneller Zugang zu Stasi-Akten als Privatpersonen. „Es war eine Mammut-Aufgabe mit ungewissem Ausgang“, sagt Otto über die umfangreichen Recherchen. Unter anderem hat sie Helmut Müller-Enbergs um Mithilfe gebeten. Der promovierte Politologe und frühere stellvertretende Fachbereichsleiter in der Forschungs- und Medienabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde untersuchte unter anderem im Auftrag des Deutschen Bundestages die Stasi-Vorwürfe gegen Gregor Gysi.
Nach den Maßstäben des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Stasi-Unterlagen-Gesetzes kann Heike Drechsler laut Müller-Enbergs nicht als inoffizielle Mitarbeiterin bezeichnet werden. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes ist jemand, der wissentlich und willentlich Informationen an den Staatssicherheitsdienst geliefert hat.
Ihr früherer Trainer beim SC Motor Jena, Peter Hein, der als einer der wenigen Trainer nie für Stasi arbeitete, kann sich eine Spitzeltätigkeit von Heike Drechsler rückblickend ebenfalls nicht vorstellen: „Die war nicht so verblendet, oder es hat sie gar nicht interessiert.“ Drechsler gibt zu, in vielen Dingen zu naiv und gutgläubig gehandelt zu haben. „Ich habe nicht die Politik gemacht. Ich habe sie aber sicherlich für meinen Bereich für gut gefunden. Und habe in dem Fall sicherlich nicht an andere Menschen gedacht, die vielleicht viel mehr Sorgen und Probleme hatten.“ Ein angebliches Spitzelopfer: Marlies Göhr, Heike Drechslers große sportliche Konkurrentin. Immer wieder taucht der Name Marlies Göhr in Heike Drechslers Akte auf. Ganz anders in der Akte von Göhr. Darin findet sich nur einen Satz zu Heike Drechsler. Das Verhältnis der beiden sei offensichtlich gestört bzw. gebe es überhaupt kein Verhältnis. Ansonsten Fehlanzeige: Der Name Drechsler taucht nicht auf. Ein Beweis dafür, dass Heike Drechsler nie bewusst über Marlies Göhr berichtet hat.
Ein weiterer wichtiger Zeuge konnte nicht mehr befragt werden. Stasi-Major Heinz Bergner, Freund der Familie Drechsler, der eine Akte über Heike und ihren damaligen Ehemann Andreas angelegt hat, nahm sich bereits vor einigen Jahren das Leben. Über die wahre Tätigkeit des Mannes, der sich bei ihr als Fotograf vorgestellt hat, wusste Heike Drechsler nach eigener Aussage nichts. Gegenüber Andreas Drechsler hatte sich Bergner irgendwann zu erkennen gegeben.
Erstmals aufgekommen waren die Vorwürfe gegen Drechsler im Herbst 1993. Zwischen 1986 und 1988 soll sie der Stasi zugearbeitet und Mannschaftskameraden geschadet haben. Heike Drechsler will ihre Rolle in der DDR nicht schönreden, manche Vorwürfe sind berechtigt. Eins aber, sagt sie, stimmt einfach nicht: dass sie inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit war. Nach Abschluss der Recherchen sagt Drechsler: „Wenn jetzt nochmal jemand behauptet, ich wäre IM gewesen, würde ich rechtlich gegen ihn vorgehen.“
Der Fall Drechsler ist ein Beispiel für den mitunter falschen Eifer, ehemalige Stasimitarbeiter zu enttarnen. Je bekannter der Enttarnte, desto größer und gefragter die Story. Vermeintliche Täter wurden vorverurteilt, weil Anschuldigungen nicht gründlich recherchiert und Ermittlungsergebnisse in der Öffentlichkeit falsch dargestellt wurden. "In der Hysterie entstanden neue Opfer", so Müller-Enbergs. Nur selten war eine Gegendarstellung erfolgreich, nur selten führte die Beweisführung zu einer wirklichen Entlastung. Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer könnte die Zeit reif sein für eine differenzierte Betrachtung über diesen Teil der deutsch-deutschen Vergangenheit.
Heike Otto, geboren 1968 in Hubertusburg/Sachsen, war Lehrerin, bevor sie viele Jahre als Reporterin und Redakteurin für den SWR/ARD-Hörfunk in Stuttgart arbeitete. Heute lebt sie als freiberufliche Journalistin und Autorin in München.
Sendetermine
SWR - Mittwoch, 24. Oktober 2018, 22:03 Uhr
BR 2 - Samstag, 27. Oktober 2018, 13:05 Uhr
SR 2 KulturRadio - Samstag, 27. Oktober 2018, 17:04 Uhr
Bremen Zwei (RB) - Samstag, 27. Oktober 2018, 18:05 Uhr
WDR 5 - Sonntag, 28. Oktober 2018, 11:05 Uhr
NDR Info - Sonntag, 28. Oktober 2018, 11:05 Uhr
hr2-kultur - Sonntag, 28. Oktober 2018, 18:05 Uhr
Redaktion: Till Ottlitz (BR)
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks für das ARD radiofeature 2018
Stand: 24.10.2018, 13.00 Uhr