Gesang der Fassungslosigkeit: Thomas Harlans "Heldenfriedhof"

WDR 3 Kulturfeature

Gesang der Fassungslosigkeit: Thomas Harlans "Heldenfriedhof"

Thomas Harlan (1929-2010), Autor und Filmemacher, war der Sohn des Regisseurs Veit Harlan; dessen Propagandafilm "Jud Süss" in den Augen des Sohnes ein "Mordwerkzeug" war. Die nationalsozialistischen Verbrechen, die Schuld der Täter und ihre Verfolgung machte Thomas Harlan zu seinem Lebensthema.

Konzentrationslager in einer alten Reismühle

© mauritius images

"Heldenfriedhof": ein radikaler Roman von großartiger Sprachkraft und ein Rätsel, nahezu unlesbar und zugleich ganz intensives Lektüreerlebnis. So beschreiben Literaturkritiker und -wissenschaftler ihre Leseerfahrung mit Thomas Harlans letztem Roman, den der 70-Jährige in der Berchtesgadener Klinik schrieb, in der er – schwer lungenkrank – die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte.

Im Mittelpunkt des Romans, dessen Inhalt kaum zu erzählen ist, stehen Akteure der "Aktion Reinhardt". Mit diesem Namen werden heute die Verbrechen bezeichnet, in denen in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 über zwei Millionen Juden sowie rund 50.000 Sinti und Roma ermordet wurden. Die letzte Station der Täter dieser "Aktion Reinhardt" war San Sabba, ein Konzentrationslager in einer alten Reismühle in Triest. Hier ist auch die Mutter der fiktiven Hauptfigur des Romans, Enrico Cosulich, verschwunden.

Cosulich macht sich auf die Suche nach den Tätern, spürt sie in der Bundesrepublik und in Österreich auf, obwohl sie vielfach unter anderem Namen nach 1945 eine neue Karriere begonnen haben. Enrico Cosulich ist zugleich selbst Autor eines Romans im Roman: mit dem Titel "Heldenfriedhof". Darin wird der - fiktive - Massenselbstmord von fünfzehn ehemaligen Aktion-Reinhardt-Angehörigen am 26. Mai 1962 auf dem Soldatenfriedhof Villa Opicina bei Triest vorhergesagt, mit dem diese sich ihrer drohenden Strafverfolgung entziehen und mit dem wiederum der Roman beginnt, den wir gerade lesen ...

Erfindungen dienten dazu, hat Thomas Harlan gesagt,"die Wahrheit zu vertiefen". Der Roman "Heldenfriedhof", erschienen 2006, ist eine unauflösbare Mischung aus Fakten und Fiktionen und ein Solitär in der deutschsprachigen Literatur. Thomas Harlan hat hier seine lebenslange obsessive Bemühung um die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in einen Roman verwandelt, in dem historische Recherchen und literarische Erfindungen, kalte Tatsachenberichte und poetische Überhöhungen in einem einzigartigen Kunstwerk zusammenfließen. Seine Wirkung beruht auf der Suggestionskraft und der äußersten Musikalität seiner Sprache, die das Feature mit der Stimme Hanns Zischlers wahrnehmbar macht. Denn, so Thomas Harlan im Gespräch mit der Literaturkritikerin Sieglinde Geisel: "Nur was man singen kann, ist hörbar".

Ausstrahlung am 22. April 2017, Wiederholung am 23. April 2017
Von: Ulrike Janssen
Redaktion: Imke Wallefeld
Produktion: WDR 2017

Stand: 20.04.2017, 14.00 Uhr