WDR-Umfrage zu sexuellem Kindesmissbrauch: mindestens 566 Verdachtsmeldungen bei Jugendämtern

WDR-Umfrage zu sexuellem Kindesmissbrauch: mindestens 566 Verdachtsmeldungen bei Jugendämtern

  • WDR-Erhebung nach Lügde unter Jugendämtern: 75 Prozent nahmen teil

  • Personalausstattung und Standards nicht einheitlich

  • Arbeitsbelastung regional sehr unterschiedlich

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Das Thema sexueller Kindesmissbrauch beschäftigt viele Jugendämter in NRW. Das geht aus einer Erhebung bei allen NRW-Jugendämtern hervor, die der WDR nach den Kindesmissbrauchsfällen von Lügde durchgeführt hat. An der WDR-Umfrage nahmen 139 von insgesamt 186 Ämtern teil. Demnach verzeichneten Jugendämter in Nordrhein-Westfalen 2018 mindestens 566 Verdachtsmeldungen auf sexuellen Kindesmissbrauch. Damit gingen im vergangenen Jahr im Schnitt bei diesen Kommunen fünf solcher Verdachtsmeldungen ein.

Familienminister Stamp: mehr Expertise bei sexualisierter Gewalt nötig

Anders als in der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW wird in den Jugendämtern sexuelle Gewalt nicht einheitlich erfasst und bearbeitet. 37 Kommunen haben zu Verdachtsmeldungen bei dieser Form der Kindeswohlgefährdung keine Angaben gemacht, da sie diese statistisch nicht oder anders erfassen. Familien- und Jugendminister Joachim Stamp (FDP) wünscht sich im „Westpol“-Interview daher auch bei den Jugendämtern mehr Klarheit in solchen Fällen. Er wolle dafür sorgen, dass „in jedem kleinen Jugendamt“ die entsprechende Expertise „nicht nur bei Kindeswohlgefährdungen, sondern speziell bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ vorhanden sei.

Viele Fälle pro Mitarbeiter – trotz mehr Personals

Einige Kommunen klagen über massive Überlastung. „Irgendwann ist auch der Ofen aus. Wenn uns nicht geholfen wird, dann wird irgendwann dieses System zwangsläufig implodieren“, so Alfred Sonders (SPD). Der Bürgermeister von Alsdorf sagt, er könne aufgrund einer Haushaltssperre keine neuen Jugendamtsmitarbeiter einstellen und warnt: Wenn die Kommunen nicht mehr Mittel von Bund und Land bekämen, werde es „Probleme geben, und das wollen wir alle nicht hoffen“.

Bei der Arbeit im allgemeinen sozialen Dienst der Jugendämter zeigt die WDR-Erhebung große regionale Unterschiede. 40 Prozent der teilnehmenden Ämter haben dazu Angaben gemacht – und in diversen Kommunen müssen sich einzelne Mitarbeiter um sehr viele Fälle kümmern. In Rösrath beispielsweise kamen demnach durchschnittlich 101 Fälle auf eine Planstelle, im Kreis Siegen-Wittgenstein 97 und in Gelsenkirchen 79. Eine niedrige Fallrelation gaben Goch (23), Erkelenz (18) und Schwerte (16) an. Im Durchschnitt liegt die Fallrelation in der WDR-Umfrage bei 39. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst hatte sich bereits vor einigen Jahren für eine Fallzahlobergrenze von 35 pro Stelle ausgesprochen.

Die Ämter sind personell sehr unterschiedlich ausgestattet. Vier etwa gleich große Städte mit etwa 100.000 Einwohnern hatten 2018 unterschiedlich viele Planstellen im Allgemeinen Sozialen Dienst: Vergleichsweise wenige Planstellen meldeten Bottrop (11) und Düren (14), etwa doppelt so viele Recklinghausen (29) und Remscheid (26,5). Im Trend hat die Zahl dieser Stellen in diesem Bereich der Jugendämter seit 2015 aber landesweit zugenommen.

Unterbringung in Pflegefamilien oder in Heimen

Ob die Kinder im Heim oder in Pflegefamilien betreut wurden, war von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich: Bergisch Gladbach hat mit 76 Prozent einen hohen Heimanteil. Im Kreis Wesel dagegen wurden 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien untergebracht. Landesweit 53 Prozent der Kinder wurden in Pflegefamilien und 47 Prozent in Heimen vermittelt. Bei den 139 an der Umfrage teilnehmenden Jugendämtern wurden im vergangenen Jahr 9.176 Schutzmaßnahmen zu Kindeswohlgefährdungen ergriffen (ausgenommen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge).

Nach den Missbrauchsfällen von Lügde fragte der WDR auch nach Verbesserungsvorschlägen. Diverse Kommunen wünschen sich eine bessere Vernetzung mit Polizei und anderen Behörden. Auch mehr Fortbildungen zu sexueller Gewalt werden gefordert – sowie die Einführung von landeseinheitlichen Standards und landesweit definierte Fallgrößen pro Vollzeitstelle. Anfang Juli will Familienminister Joachim Stamp eigene Maßnahmen zu besseren Arbeit bei Jugendämtern vorlegen.

Stand: 19.05.2019, 15.00 Uhr